Georg Trakl: Der Herbst des Einsamen (1900)

1Der dunkle Herbst kehrt ein voll Frucht und Fülle,
2Vergilbter Glanz von schönen Sommertagen.
3Ein reines Blau tritt aus verfallener Hülle;
4Der Flug der Vögel tönt von alten Sagen.
5Gekeltert ist der Wein, die milde Stille
6Erfüllt von leiser Antwort dunkler Fragen.

7Und hier und dort ein Kreuz auf ödem Hügel;
8Im roten Wald verliert sich eine Herde.
9Die Wolke wandert übern Weiherspiegel;
10Es ruht des Landmanns ruhige Geberde.
11Sehr leise rührt des Abends blauer Flügel
12Ein Dach von dürrem Stroh, die schwarze Erde.

13Bald nisten Sterne in des Müden Brauen;
14In kühle Stuben kehrt ein still Bescheiden
15Und Engel treten leise aus den blauen
16Augen der Liebenden, die sanfter leiden.
17Es rauscht das Rohr; anfällt ein knöchern Grauen,
18Wenn schwarz der Tau tropft von den kahlen Weiden.

(Aus: Haider, Thomas. A Large Annotated Reference Corpus of New High German Poetry. In: Proceedings of the 2024 Joint International Conference on Computational Linguistics, Language Resources and Evaluation (LREC-COLING 2024), S. 677–683, Torino, Italia. ELRA and ICCL. 2024.)

Gedichtanalyse


Georg Trakl stellt in seinem romantischen Natur-Gedicht „Der Herbst des Einsamen“ (1915) die Wahrnehmung des Herbstes dar. Angesichts dieses Themas liegt die Deutungshypothese nahe, dass das lyrische Ich den Herbst ambivalent wahrnimmt, da der Herbst zum einen für den Sprecher eine Todessymbolik darstellt, zum anderen auch Positives mit sich bringt; die negativen Assoziationen überwiegen jedoch.

Die erste Strophe handelt von den Veränderungen, die der Herbst mit sich bringt; somit wird der Übergang von Sommer zu Herbst beschrieben. In der zweiten Strophe wird die Wahrnehmung der Umgebung bzw. Natur des Sprechers thematisiert. Die dritte Strophe handelt von den Erwartungen des Sprechers an die Zukunft, insbesondere hinsichtlich der sich verändernden Natur. Das gleichförmige Gedicht umfasst drei Strophen à sechs Verse. Zudem liegt ein reiner Kreuzreim vor. Als Metrum liegt ein sechshebiger Jambus vor. Darüber hinaus gibt es konsequent lediglich weibliche Kadenzen. Diese harmonische Form hebt die positiven Anteile des Herbstes hervor, da ansonsten inhaltlich das Negative überwiegt. Das implizite lyrische Ich befindet sich in einer Herbstszene und berichtet von seinen ambivalenten, subjektiven Wahrnehmungen. Ein lyrisches Du ist nicht identifizierbar.

In dem Gedicht finden sich kontinuierlich zwei unterschiedliche Motive, die jeweils durch unterschiedliche Wortfelder hervorgehoben werden. Zum einen das Motiv, das die positiven Eigenschaften des Herbstes behandelt; somit wird für dieses ein positiv konnotiertes Wortfeld verwendet. Zum anderen das Motiv der Vergänglichkeit bzw. des Todes, welches sich an einem negativ konnotierten Wortfeld bedient. Zunächst wird der Herbst mit dem Adjektiv „dunk[el]“ (V. 1) beschrieben, was für eine negative Wirkung sorgt, da die Dunkelheit als unheimlich und ungewiss angesehen wird. Gleichzeitig wird mit dem Einkehren des Herbstes auch eine positive Wirkung verbunden, denn dieser ist „voll Frucht und Fülle“ (V. 1), was durch die Alliteration verstärkt wird. Diese ambivalenten Assoziationen des Herbstes unterstreichen das Gefühlschaos des lyrischen Ichs. Der „[v]ergilbte[] Glanz von schönen Sommertagen“ (V. 2) zeigt die Vergänglichkeit und dass sich das lyrische Ich nach den vergangenen Sommertagen sehnt, was durch die Alliteration „schöne[] Sommertage[]“ (V. 2) sowie die klingende weibliche Kadenz (vgl. V. 2) gestärkt wird; es wird somit ein Kontrast zwischen Sommer und Herbst deutlich, welcher durch den Kreuzreim hervorgehoben wird. Der gleichmäßige Jambus zeigt, dass es sowohl negative, als auch positive Assoziationen gibt. Dieser Kontrast wird im nächsten Vers aufrechterhalten, da die durch den Herbst „verfallene Hülle“ (V. 3) ein „reines Blau“ (V. 3), welches noch aus dem Sommer stammt, hervorbringt. Die Vergänglichkeit des Sommers wird verdeutlicht, denn „[d]er Flug der Vögel [tönt] von alten Sagen“ (V. 4). Diese „alten Sagen“ (V. 4) werden mit etwas Mystischem in Verbindung gebracht, wodurch sich zeigt, dass der Sprecher seine negativen Gefühle durch den Herbst versucht durch Mythen und Vergangenes zu kompensie-ren sowie letztendlich aus der Realität zu fliehen. In den darauffolgenden Versen werden viele Wörter aus dem Wortfeld der Ruhe benutzt, so z. B. „Stille“ (V. 5) und „leise[]“ (V. 6). Die Stille steht als Symbol für die Ungewissheit, die das lyrische Ich durch den Herbst verspürt. Diese Ungewissheit soll durch die „leise[] Antwort dunkler Fragen“ (V. 6) geklärt werden, jedoch wird die Antwort mit dem Adjektiv „leise[]“ (V. 6) beschrieben und die Fragen als „dunk[el]“ (V. 6). Daher wird der Sprecher nicht von den Antworten befriedigt und die Fragen werden als dunkel beschrieben, da der Sprecher etwas hinterfragt, worauf es wenig Antworten gibt und seine Neugier nicht gestillt werden kann. Dies wird auch von dem Enjambement unterstrichen (vgl. V. 5/6). Da der Herbst neue Fragen aufbringt und diese nur teilhaft beantwortet werden, bleibt die Ungewissheit des lyrischen Ichs bestehen und der Herbst wird weiterhin negativ assoziiert. Die negativen Assoziationen nehmen stetig pro Strophe zu. Besonders in der zweiten Strophe nehmen die negativen Assoziationen drastisch zu, so sind die negativ konnotierten Wörter „Kreuz“ (V. 7), „öde[]“ (V. 7), „verlier[en] „(V. 7), „rot[]“ (V. 8), „ruh[en]“ (V. 10), „ruhig[]“ (V. 10), „[s]ehr leise“ (V. 11), „Abend[]“ (V. 11), „dür[]“ (V. 12) sowie „schwarz[]“ (V. 12) in dieser vorhanden. All diese Wörter unterstützen die Todessymbolik, die das lyrische Ich in der Natur bzw. dem Herbst sieht. Denn der Tod ist still, der Tote hat sein Leben verloren und das Jenseits wird mit der Farbe schwarz verbunden. Die Alliteration „[d]ie Wolke wandert übern Weiherspiegel“ (V. 9) sowie der Neologismus „Weiherspiegel“ (V. 10) zeigt den Umbruch im Herbst durch die dynamische Bewegung sowie die wenigen positiven Anteile des Herbstes, welcher auch Neuheiten mit sich bringt, die durch den Neologismus verdeutlicht werden. Es wird der Eindruck erweckt, dass der lyrische Ich den Tod „des Einsamen“ (Titel) aus dritter Perspektive wahrnimmt und beschreibt. Der Einsame ist ein „Landmann[]“ (V. 10). Die Personifikation des Abends durch das Rühren der blauen Flügel (vgl. V. 11) des Daches (vgl. V. 12) stellt durch eine Metapher die letzten Atemzüge des Einsamen dar. Das Enjambement macht deutlich, dass die letzten Atemzüge schwer zu vollziehen sind (vgl. V. 11/12). Als Letztes erzählt das lyrische Ich von einem Ausblick in die Zukunft, wenn der „Müde[]“ (V. 13) bzw. der Einsame stirbt, was sich durch das Zeitadverb „[b]ald“ (V. 13) zeigt: Durch die Personifikation „Sterne [nisten] in des Müden Brauen“ (V. 13) wird der Tod untermalt und es zeigt sich, dass der Sprecher mit dem Tod auch den Himmel verbindet, da von Sternen gesprochen wird. Die negativ konnotierten Wörter „[i]n kühle Stuben kehrt ein still Bescheiden“ verdeutlichen erneut die Stille des Todes und das Enjambement (vgl. V. 14/15) verdeutlicht, dass der Tod auch etwas Positives mit sich bringt, nämlich Engel (vgl. V. 15). Dieser Zusammenhang wird durch die nebenordnende Konjunktion „[u]nd“ (V. 15) deutlich. Die Metapher „Engel treten leise aus den blauen Augen der Liebenden, die sanfter leiden“ (V. 15/16) verdeutlicht, dass die Engel die Angehörigen des Einsamen bei ihrer Trauer unterstützen werden, das zeigt sich durch den Komparativ „sanfter“ (V. 16). Der Komparativ wird durch das Enjambement unterstützt, welches die große Wirkung der Unterstützung durch die Engel verdeutlicht (vgl. V. 15/16). Das geschieht für die Trauernden unbemerkt, was das Adverb „leise“ (V. 15) zeigt. Der Sprecher verbindet den Tod mit dem Himmel, weshalb das Wortfeld mit den Wörtern „Sterne“ (V. 13) und „Engel“ (V. 15) genutzt wird. Der Konditionalsatz „Es rauscht das Rohr; anfällt ein knöchern Grauen,/Wenn schwarz der Trau tropft von den kahlen Weiden“ (V. 17/18) verdeutlicht den letztendlichen Tod des Einsamen. Die Dramatik des Todes wird durch die akustischen Eindrücke durch das Rauschen des Rohres untermalt (vgl. V. 7). Das „knöchern Grauen“ (V. 17) sowie die Farbe Schwarz (vgl. V. 18) werden eng mit dem Tod assoziiert. Durch die Personifikation „der Tau tropft“ (V. 18) wird der „Tau“ (V. 18) als Symbol für den Toten verwendet, der Suizid aus seiner Einsamkeit heraus begangen hat. Hier zeigt sich die Finalstruktur des Gedichtes, da der letzte Vers den Tod des Einsamen darstellt und alle Verse davor auf diesen vorbereiten (vgl. V. 18). Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich die ambivalente Stimmung des Gedichts konsequent in Form, Inhalt und Sprache widerspiegelt sowie das Gedicht primär die negativen Emotionen durch den Herbst behandelt, nämlich den Tod.


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Veröffentlicht am
7/4/2023