Barthold Heinrich Brockes: Neue Frühlings-Gedanken (1740)

1Gott Lob! wir nähern uns aufs neu der Sonnen Stral,
2Der Licht und Wärme Quell, dem Born der Fruchtbarkeit,
3Und es erscheinet abermal
4Die angenehme Frühlingszeit.
5Des strengen Frosts noch nicht verschwundnes Angedenken
6Vermehret, durch den Gegensatz,
7Den allbereit erhaltnen Schatz,
8Den uns der frühe Lenz bereits beginnt, zu schenken,
9Wozu zugleich die Trösterinn der Welt,
10Die
11Und unsrer aufgeweckten Brust
12Jm künftigen noch immer größre Lust,
13Mit wahrer Schmeicheley, verspricht,
14Drey Zeiten scheinen sich auf die Art zu bestreben,
15Euch mannigfaltge Lust zu geben,
16Und, durch verschiedne Seltenheit,
17Die jeder eigen ist, euch die Vergnüglichkeit,
18Und eure Lust noch zu erheben.
19Ach laßt das schönste Theil von eurem Leben nicht
20So ungeprüft, wie sonst, und nicht vergebens,
21Ohn ihrer Reizung zu genießen,
22Vergehn, verschwinden und verfließen!
23Ach seyd doch nicht so gar verkehrt,
24Den Winter, als noch nicht vergangen,
25Die Frühlingszeit, als noch nicht angefangen,
26Und als noch nicht Betrachtungs-werth,
27Auf noch was besseres stets hoffend, anzusehn;
28Ja obschon viele Ding euch, in dem Garten,
29Und überall, bereits zu eurer Lust entsprießen,
30Anstatt derselben zu genießen,
31Noch immer auf das Künftige zu warten,
32Da doch so dann Gewohnheit, wie bisher,
33Euch alle Lust unfehlbar raubet,
34Und, euch verblendend, mehr und mehr,
35Euch selbst zur Lust, und Gott zur Ehr,
36Die Welt zu brauchen, nicht erlaubet.
37Wie mancher Lenz ist euch, auf diese Weis,
38Eh ihr, durch Aufschub erst, verführt,
39Nachhero durch Gewohnheit ungerührt,
40Jhn zu genießen, angefangen.
41Soll euch denn der Erfahrung Licht
42Nicht einmal euren Fehler zeigen?
43Wollt, ihr so oft Betrogne, nicht
44Aus eurem Pfuhl des Unglücks steigen?
45Auf! laßt uns, wie, in allen Dingen,
46Sich alle Kräfte jetzt verjüngen,
47Wie Himmel, Erd und Meer so schön,
48In neuem Glanz und Schimmer stehn;
49Durch ihre Pracht gerührt, besehn!
50Und die darob, in unsrer Brust,
51Verspürte neue Freud und Lust
52Dem Geber, im vergnügten Leben,
53Zum angenehmen Opfer geben.
54Es fänget jetzt zu dieser Zeit,
55Nicht nur allein der Knospen Menge,
56In fast zu spürendem Gedränge,
57Ja fast sichtbarer Aemsigkeit,
58An viel- und ungezählten Stellen,
59Sich zu vergrößern und zu schwellen,
60Zu bersten, zu gebähren an.
61Es dringt, nicht nur so weit man sehen kann,
62Des Grases grüner Schmelz, sammt ihrer Kräuter Zier,
63Sich überall mit Macht herfür;
64Man sieht, nicht nur der Blumen Prangen,
65Jm Garten schön hervorgegangen;
66Man hört nicht nur ein gurgelnd Singen
67Von Vögeln in der Luft erklingen.
68Man spürt, von tausend füssen Düften,
69Zibeth und Balsam in den Lüften.
70Es hat, nebst dieser Sinnen Weide,
71Zumal wer auf dem Lande lebt,
72Zu dieser Zeit noch andre Freude.
73Man erndtet gleichsam jetzt, erhebt
74Und überkömmt, von seines Viehes Zucht,
75Zu dieser Zeit, die junge Frucht.
76Da wir mit Kälbern, Lämmern, Pferden,
77Zur Frühlingszeit, bereichert werden.
78Wie angenehm ist, wenn uns früh
79Die Kinderchen, mit frohem Springen,
80Die angenehme Zeitung bringen:
81Es haben diese Nacht zwo Küh
82Gekalbt, wir haben schon die Kälberchen gesehn,
83Das ein’ ist roth und weiß, des einen Kopf ist schön
84Mit einem großen weißen Flecken.
85Bald fängt ein andrer an, noch zu entdecken:
86Die große Stut hat, diese Nacht,
87Uns einen jungen Fohlen bracht;
88Er ist so niedlich und so klein;
89Er springt und schlägt schon aus mit einem Bein,
90Unmüglich kann ein Fohlgen schöner seyn.
91Auch werden wir, ruft
92Schon morgen kleine Ferken kriegen.
93Papa, ich hab anietzt von unsrer Trin vernommen,
94Wir haben diese Nacht vier Lämmerchen bekommen,
95O! soll ich sie nicht sehn?
96Ruft oft die kleine Mitilen,
97Voll muntrer, geistiger, voll holder Freundlichkeit.
98Und dergestalt geht es, zu dieser Zeit,
99Fast jeglichem in seinem Stande,
100Fast jedem Hauswirth auf dem Lande.
101Die Milch fängt überall itzt an zu qvillen,
102Daß man sie kaum verbrauchen kann.
103Die Hühner, Endt- und Tauben fangen an,
104Die Rester überall zu füllen,
105Und kurz, es ist anjetzt die Zeit
106Voll Anmuth und voll Fruchtbarkeit.
107Ach! laßt uns solches doch bedenken!
108Ach laßt uns doch, für so viel Gaben,
109Die wir von unserm Gott empfangen haben,
110Jhm wenigstens doch unsre Freude schenken!
111Zumal er anders nichts von uns begehrt,
112Als daß man
113Mit langem Wort-Geplärr, nur mit gerührter Seelen,
114Empfinde, schmeck und sehe,
115Wie wohl durch ihn uns hier geschehe!
116Daß man in unsrer Lust nur dieß gedenke:
117Daß Gott, der alles schuff, uns dieses alles schenke.

(Aus: Haider, Thomas. A Large Annotated Reference Corpus of New High German Poetry. In: Proceedings of the 2024 Joint International Conference on Computational Linguistics, Language Resources and Evaluation (LREC-COLING 2024), S. 677–683, Torino, Italia. ELRA and ICCL. 2024.)

Bitte prüfe den Text zunächst selbst auf Auffälligkeiten und nutze erst dann die Funktionen!

Wähle rechts unter „Einstellungen“ aus, welcher Aspekt untersucht werden soll. Unter dem Text findest du eine Erklärung zu dem ausgewählten Aspekt.

Dieses Gedicht könnte aus folgender Literaturepoche stammen:
Author

Barthold Heinrich Brockes (1680-1747)

* 09/22/1680 in Hamburg, † 01/16/1747 in Hamburg

männlich, geb. Brockes

deutscher Schriftsteller

(Aus: Wikidata.org)

Bitte beachte unsere Hinweise zur möglichen Fehleranfälligkeit!

Gedichtanalysen zu diesem Gedicht