Max Dauthendey: Das Geisterhaus (1892)

1Das Geisterhaus, das aus Gerüchen aufgebaut,
2Oft nah, daß ich neu wohne in längst Altem.

3Dort wusch man einst die Leiche meiner Mutter,
4Im Garten lernten mich die Blumen kennen,
5Die Gartenblumen, die besonnen blühen.
6Und draußen stand behaglich Korn und Klee
7Und duftete Begehr, und heute weiß ich,
8Daß alle Düfte über Feld und Gärten
9Die Liebeslieder all der Blumen sind.
10Doch damals unverstanden gingen Frühlingsnächte,
11Noch kindlich schlief der Mond im weißen Baum.
12Nur reich entsinn' ich körperlose Freuden,
13Wenn dumpfe Wolken an den Himmel stiegen,
14Ein Augenblick schoß aus den Ewigkeiten,
15Er zeigte klein die Menschen, groß den Himmel.

16Im Winter, wenn die Tage blind geworden,
17Wuchsen die Menschen breit im sichern Hause,
18Das bilderreiche Feuer wärmte Träume,
19Und Träume wurden Sonnen langen Nächten.
20Und viel noch weiß ich von Geheimnisdingen,
21Denn mehr verwandter als die Menschenherzen
22Waren die Herzen mir der Tiere und der Pflanzen.
23In Sommernächten, wenn die Grillen spuken,
24Wenn ganze Heere eine Nacht besangen ...
25... Die furchtbar stummen Katzen in verlassnen Kammern,
26Die durch verschlossne Türen jäh verschwinden,
27Mit Augen, die entsetzlich Fremdes wissen,
28Sie haben mehr erspäht als alle Menschen.
29Und Schmetterlinge, die im Himmel wohnen,
30Sie, die versargt gewesen in den Puppen,
31Sie kamen oft zu mir dicht auf die Erde
32Und legten lichtbestaubt die Baldachine
33Flach in die Sonne, sprechend zu der Sonne.
34Die Tage wurden so unirdisch lang,
35Mit tausend Flügeln sangen die Insekten.
36Ich lebte mit der flinken Eintagfliege
37Die sechzig Jahre in der einen Stunde.
38Doch später kürzten sich im Haus die Jahre,
39Die Falten der Gesichter lehrten zählen,
40Sie kamen näher, näher und verwandter,
41Doch sehe ich auf sie, die abgeerntet haben,
42Ungläubig noch, mit jenen unerschöpften Augen,
43Die voll Unsterblichkeit heiliger Jugend.

(Aus: Haider, Thomas. A Large Annotated Reference Corpus of New High German Poetry. In: Proceedings of the 2024 Joint International Conference on Computational Linguistics, Language Resources and Evaluation (LREC-COLING 2024), S. 677–683, Torino, Italia. ELRA and ICCL. 2024.)

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Dieses Gedicht könnte aus folgender Literaturepoche stammen:
Author

Max Dauthendey (1867-1918)

* 07/25/1867 in Würzburg, † 08/29/1918 in Malang auf Java

männlich, geb. Dauthendey

deutscher Dichter und Maler

(Aus: Wikidata.org)

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