Friedrich Schiller: Das Geheimnis der Reminiszenz (1782)

1Ewig starr an deinem Mund zu hangen,
2Wer enträtselt dieses Wutverlangen?
3Wer die Wollust, deinen Hauch zu trinken,
4In dein Wesen, wenn sich Blicke winken,
5Sterbend zu versinken?

6Fliehen nicht verräterisch – wie Sklaven,
7Weggeworfen feigen Muts die Waffen, –
8Meine Geister, hin im Augenblicke,
9Stürmend über meines Lebens Brücke,
10Wenn ich dich erblicke?

11Sprich, warum entlaufen sie dem Meister?
12Suchen dort die Heimat meine Geister?
13Oder küssen die getrennten Brüder,
14Losgerafft vom Kettenband der Glieder,
15Dort bei

16Laura? träum ich? ras ich? – die Gedanken
17Überwirbeln des Verstandes Schranken –
18Sieh! der Wahnsinn ist des Rätsels kunder,
19Staune Weisheit auf des Wahnsinns Wunder
20Neidischbleich herunter.

21Waren unsre Wesen schon verflochten?
22War es darum, daß die Herzen pochten?
23Waren wir im Strahl
24In den Tagen lang begrabner Wonnen,
25Schon in

26Ja wir warens – Eins mit deinem Dichter
27Warst du, Laura – warst ein Weltzernichter! –
28Meine Muse sah es auf der trüben
29Tafel der Vergangenheit geschrieben:
30Eins mit deinem Lieben!

31Aber ach! – die selgen Augenblicke
32Weinen leiser in mein Ohr zurücke –
33Könnten Grolls die Gottheit Sünder schelten,
34Laura – den Monarchen aller Welten
35Würd ich

36Aus den Angeln drehten wir Planeten,
37Badeten in lichten Morgenröten,
38In den Locken spielten Edens Düfte,
39Und den Silbergürtel unsrer Hüfte
40Wiegten Maienlüfte.

41Uns entgegen gossen Nektarquellen
42Tausendröhrigt ihre Wollustwellen,
43Unserm Winke sprangen Chaosriegel,
44Zu der Wahrheit lichtem Sonnenhügel
45Schwang sich unser Flügel.

46Unsern Augen riß der Dinge Schleier,
47Unsre Blicke, flammender und freier,
48Sahen in der Schöpfung Labyrinthen,
49Wo die Augen Lyonets verblinden,
50Sich noch Räder winden –

51Tief, o Laura, unter
52Wälzte sich des
53Schweifend durch der Wollust weite Lande
54Warfen wir der Sättgung Ankerbande
55Ewig nie am Strande –

56Weine, Laura – dieser
57Du und
58Und in uns ein unersättlich Drängen
59Das verlorne Wesen einzuschlingen,
60Gottheit zu erschwingen.

61Darum, Laura, dieses Wutverlangen,
62Ewig starr an deinem Mund zu hangen,
63Und die Wollust, deinen Hauch zu trinken,
64In dein Wesen, wenn sich Blicke winken,
65Sterbend zu versinken.

66Darum fliehn, verräterisch, wie Sklaven,
67Weggeworfen feigen Muts die Waffen,
68Meine Geister, hin im Augenblicke!
69Stürmend über meines Lebens Brücke
70Wenn ich Dich erblicke!

71Darum nur entlaufen sie dem Meister,
72Ihre Heimat suchen meine Geister,
73Losgerafft vom Kettenband der Glieder,
74Küssen sich die langgetrennten Brüder
75Wiederkennend wieder.

76Töne! Flammen! zitterndes Entzücken!
77Wesen lechzt, an Wesen anzurücken –
78Wie, beim Anblick einer Freundsgaleere,
79Friedensflaggen im Ostindermeere
80Wehen lassen Heere;

81Aufgejagt von froher Pulverwecke,
82Springt das Schiffsvolk freudig aufs Verdecke,
83Hoch im Winde schwingen sie die Hüte,
84Posidaons wogendes Gebiete
85Dröhnt von ihrem Liede. –

86War es nicht dies freudige Entsetzen,
87Als mirs ward, an Lauren mich zu letzen?
88Ha! das Blut, voll wütendem Verlangen,
89Drängte sich mutwillig zu den Wangen,
90Lauren zu empfangen –

91Und auch
92Was verriet der Wangen Morgenröte? – –
93Flohn wir nicht, als wären wir verwandter,
94Freudig, wie zur Heimat ein Verbannter,
95Brennend aneinander? –

96Sieh, o Laura, deinen Dichter weinen! –
97Wie verlorne Sterne wieder scheinen,
98Flimmen öfters, flüchtig, gleich dem Blitze,
99Traurigmahnend an die Göttersitze,
100Strahlen durch die Ritze –

101Oftmals lispeln der Empfindung Saiten
102Wenn sich schüchtern unsre Augen grüßen,
103Seh ich träumend in den Paradiesen
104Nektarströme fließen. –

105Ach, zu oft nur waffn' ich meine Mächte,
106Zu erobern die verlornen Rechte –
107Klimme kühner bis zur Nektarquelle,
108Poche siegend an des Himmels Schwelle, –
109Taumle rück zur Hölle!

110Wenn dein Dichter sich an deine süßen
111Lippen klammert mit berauschten Küssen,
112Fremde Töne um die Ohren schwirren,
113Unsre Wesen aus den Fugen irren,
114Strudelnd sich verwirren,

115Und, verkauft vom Meineid der Vasallen,
116Unsre Seelen ihrer Welt entfallen,
117Mit des Staubs Tyrannensteuer prahlen,
118Tod und Leben zu wollüstgen Qualen
119Gaukeln in den Schalen.

120Und wir beide – näher schon den Göttern –
121Auf der Wonne gähe Spitze klettern,
122Mit den Leibern sich die Geister zanken,
123Und der Endlichkeit despotsche Schranken –
124Sterbend – überschwanken –

125Waren, Laura, diese Lustsekunden
126Nicht ein Diebstahl jener Götterstunden?
127Nicht Entzücken, die uns
128Ineinanderzuckender Naturen,
129Ach! nur matte Spuren?

130Hat dir nicht ein Strahl zurückgeglostet?
131Hast du nicht den Göttertrank gekostet? –
132Ach! ich sah den Purpur deiner Wangen! –
133War es doch der Wesen, die sich schlangen,
134Eitles Unterfangen! – –

135Laura – majestätisch anzuschauen,
136Stand ein Baum in Edens Blumenauen;
137»seine Frucht vernein ich eurem Gaume,
138Wißt! der Apfel an dem Wunderbaume
139Labt – mit

140Laura – weine unsers Glückes Wunde! –
141Saftig war der Apfel ihrem Munde – – –
142Bald – als sie sich
143Sieh! – wie Flammen ihr Gesicht vergold'ten! –
144– Und die Teufel schmollten.

(Aus: Haider, Thomas. A Large Annotated Reference Corpus of New High German Poetry. In: Proceedings of the 2024 Joint International Conference on Computational Linguistics, Language Resources and Evaluation (LREC-COLING 2024), S. 677–683, Torino, Italia. ELRA and ICCL. 2024.)

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Dieses Gedicht könnte aus folgender Literaturepoche stammen:

Friedrich Schiller (1759-1805)

* 11/10/1759 in Marbach am Neckar, † 05/09/1805 in Weimar

männlich, geb. Schiller

natürliche Todesursache - Tuberkulose

deutscher Dichter, Philosoph und Historiker

(Aus: Wikidata.org)

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