Heinrich Heine: Maria Antoinette (1826)

1Wie heiter im Tuilerienschloß
2Blinken die Spiegelfenster,
3Und dennoch dort am hellen Tag
4Gehn um die alten Gespenster.

5Es spukt im Pavillon de Flor'
6Maria Antoinette;
7Sie hält dort morgens ihr Lever
8Mit strenger Etikette.

9Geputzte Hofdamen. Die meisten stehn,
10Auf Taburetts andre sitzen;
11Die Kleider von Atlas und Goldbrokat,
12Behängt mit Juwelen und Spitzen.

13Die Taille ist schmal, der Reifrock bauscht,
14Darunter lauschen die netten
15Hochhackigen Füßchen so klug hervor –
16Ach, wenn sie nur Köpfe hätten!

17Sie haben alle keinen Kopf,
18Der Königin selbst manquieret
19Der Kopf, und Ihro Majestät
20Ist deshalb nicht frisieret.

21Ja, sie, die mit turmhohem Toupet
22So stolz sich konnte gebaren,
23Die Tochter Maria Theresias,
24Die Enkelin deutscher Cäsaren,

25Sie muß jetzt spuken ohne Frisur
26Und ohne Kopf, im Kreise
27Von unfrisierten Edelfraun,
28Die kopflos gleicherweise.

29Das sind die Folgen der Revolution
30Und ihrer fatalen Doktrine;
31An allem ist schuld Jean Jacques Rousseau,
32Voltaire und die Guillotine.

33Doch sonderbar! es dünkt mich schier,
34Als hätten die armen Geschöpfe
35Gar nicht bemerkt, wie tot sie sind
36Und daß sie verloren die Köpfe.

37Ein leeres Gespreize, ganz wie sonst,
38Ein abgeschmacktes Scherwenzen –
39Possierlich sind und schauderhaft
40Die kopflosen Reverenzen.

41Es knickst die erste Dame d'atour
42Und bringt ein Hemd von Linnen;
43Die zweite reicht es der Königin,
44Und beide knicksen von hinnen.

45Die dritte Dam' und die vierte Dam'
46Knicksen und niederknien
47Vor Ihrer Majestät, um Ihr
48Die Strümpfe anzuziehen.

49Ein Ehrenfräulein kommt und knickst
50Und bringt das Morgenjäckchen;
51Ein andres Fräulein knickst und bringt
52Der Königin Unterröckchen.

53Die Oberhofmeisterin steht dabei,
54Sie fächert die Brust, die weiße,
55Und in Ermanglung eines Kopfs
56Lächelt sie mit dem Steiße.

57Wohl durch die verhängten Fenster wirft
58Die Sonne neugierige Blicke,
59Doch wie sie gewahrt den alten Spuk,
60Prallt sie erschrocken zurücke.

(Aus: Haider, Thomas. A Large Annotated Reference Corpus of New High German Poetry. In: Proceedings of the 2024 Joint International Conference on Computational Linguistics, Language Resources and Evaluation (LREC-COLING 2024), S. 677–683, Torino, Italia. ELRA and ICCL. 2024.)

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Dieses Gedicht könnte aus folgender Literaturepoche stammen:

Heinrich Heine (1797-1856)

* 12/13/1797 in Düsseldorf, † 02/17/1856 in Paris

männlich, geb. Heine

- Bleivergiftung

deutscher Dichter und Publizist

(Aus: Wikidata.org)

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