Friedrich Schlegel: Anruf (1800)

1O ihr Blinden, die verderbend,
2Ja schon sterbend,
3Doch den Hader nicht vergessen,
4Dünkels noch vermessen,
5Nicht vernehmt die Hand, die euch geschlagen!
6Fruchtlos ohne Reue,
7Schallt nur eitel euer Klagen,
8Fern von Demut und von Treue,
9Endet euer Stolz nun in Verzagen.

10Sohn der Liebe, woll'st vereinen
11Doch die Deinen,
12Daß der Zwietracht dunkle Binde
13Vor dem Blick verschwinde,
14Alle deines Heiles Licht erkennen,
15Und in dir verbündet,
16Gern sich alle Brüder nennen,
17Neuen Muts ihr Herz entzündet
18Ewig mög' in Liebesflammen brennen.

19Welcher Hölle Ungewittern
20Dürft' erzittern
21Wohl dein Volk, wenn einig wieder,
22Es wie ehdem bieder,
23Wandelte im alten Heldenglauben?
24Gottes Himmel offen,
25Mag Zerstörung uns umschnauben,
26Steht nur fest der Liebe Hoffen,
27Darf kein Haar vom Haupt das Schicksal rauben.

28Innen keimt, das Herz betörend,
29Selbstzerstörend,
30Hier ein Gift, uns zu umschlingen,
31Fesselnd zu durchdringen,
32Bis wir dann dem Tode preisgegeben.
33Eitlen Dünkels Streiten,
34Kalter Habsucht zaghaft Beben,
35Muß dem Feind den Weg bereiten,
36Und umgarnt mit Ohnmacht unser Leben.

37Heiland, der die Welt errettet,
38Als umkettet
39Sie von ird'schem Ruhme trunken,
40Lag in Lust versunken,
41Sterbend hießest Liebe auferstehen!
42Müssen deine Krone
43Wir so arg verspottet sehen,
44Darf der Mord mit grimmem Hohne
45Wütend so durch deine Saaten gehen?

46Auf der Zeiten Woge schwankend,
47Kraftlos wankend,
48Will das Schiff des Glaubens sinken,
49Ihm kein Stern mehr winken,
50Daß die Treuen schon verstummt erblassen.
51Nirgends schimmert Rettung,
52Sturmwind naht sie zu umfassen,
53Und in schrecklicher Verkettung
54Will ein Räuber nun das Steuer fassen.

55Einsam muß der Treue wallen,
56Einsam fallen,
57Wandeln an dem öden Strande
58Ohne Liebesbande,
59Mühevoll durch Neid und Sorge ziehen.
60Kraft ist seinem Munde,
61Wort und Lied umsonst verliehen,
62Jeder hohen Gotteskunde
63Sieht er Hohn ihm lachend all' entfliehen.

64Eitel strömen aus der Kehle,
65Ohne Seele,
66Wort und Rede, mehr verwirrend
67Noch den Geist, der irrend
68Sich den Schein zur Wohnung hat erkoren;
69Mit den Zeichen spielt er,
70Deren hoher Sinn verloren,
71Nach dem eitlen Schimmer zielt er,
72Tot schon lebend, und dem Nichts geboren.

73Soll dies Elend nimmer enden,
74Nie sich wenden,
75Soll erloschen und verdorben,
76Innen ganz erstorben,
77Gott, dein Ebenbild der Mensch verlieren?
78Soll sich tief erniedernd
79Blöd' er wandeln gleich den Tieren,
80Keinen Laut der Lieb' erwidernd,
81Soll nichts Göttlich's mehr die Erde zieren?

82Nein, es hat der Herr des Lebens
83Nicht vergebens
84Göttlich für das Licht gestritten,
85Und den Tod erlitten,
86Das Gespenst der Hölle zu zerstören;
87Er, der all' vereinet,
88Die den Ruf der Liebe hören,
89Wird, so weit der Himmel scheinet,
90Seiner Kämpfenden Gebet erhören.

91Ja, es nahen schon die Tage,
92Wo die Klage
93Sich in Wonn' und Schreck entfaltet,
94Wenn der Richter waltet,
95Finsternis und Gutes ernst sich scheiden;
96Sich vereint das Gleiche,
97Licht umkränzt das fromme Leiden,
98Angstvoll klagt der irdisch Reiche,
99Gottes Trennung keiner mag vermeiden.

100Diese Felsen, die jetzt brechen,
101Alle sprechen
102Von der göttlichen Erscheinung.
103Selige Vereinung
104Ernten bald, die treu dem Ziel ausharrten;
105Noch im Sturm und Dunkeln
106Woll'n wir drum des Morgens warten,
107Mutig ob der Hoffnung Funkeln,
108Das zur Sonne wird in Gottes Garten.

(Aus: Haider, Thomas. A Large Annotated Reference Corpus of New High German Poetry. In: Proceedings of the 2024 Joint International Conference on Computational Linguistics, Language Resources and Evaluation (LREC-COLING 2024), S. 677–683, Torino, Italia. ELRA and ICCL. 2024.)

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Author

Friedrich Schlegel (1772-1829)

* 03/10/1772 in Hannover, † 01/11/1829 in Dresden

männlich, geb. Q42865417

- Schlaganfall

deutscher Kulturphilosoph, Kritiker, Literaturhistoriker und Übersetzer

(Aus: Wikidata.org)

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