1So jemand spricht: Ich liebe Gott!
2Und haßt doch seine Brüder,
3Der treibt mit Gottes Wahrheit Spott,
4Und reißt sie ganz darnieder.
5Gott ist die Lieb, und will, daß ich
6Den Nächsten liebe, gleich als mich.
7Wer dieser Erden Güter hat,
8Und sieht die Brüder leiden,
9Und macht den Hungrigen nicht satt,
10Läßt Nackende nicht kleiden;
11Der ist ein Feind der ersten Pflicht,
12Und hat die Liebe Gottes nicht.
13Wer seines Nächsten Ehre schmäht,
14Und gern sie schmähen höret;
15Sich freut, wenn sich sein Feind vergeht,
16Und nichts zum Besten kehret;
17Nicht dem Verleumder widerspricht;
18Der liebt auch seinen Bruder nicht.
19Wer zwar mit Rat, mit Trost und Schutz
20Den Nächsten unterstützet,
21Doch nur aus Stolz, aus Eigennutz,
22Aus Weichlichkeit ihm nützet;
23Nicht aus Gehorsam, nicht aus Pflicht;
24Der liebt auch seinen Nächsten nicht.
25Wer harret, bis ihn anzuflehn,
26Ein Dürftger erst erscheinet,
27Nicht eilt, dem Frommen beizustehn,
28Der im Verborgnen weinet;
29Nicht gütig forscht, ob's ihm gebricht;
30Der liebt auch seinen Nächsten nicht.
31Wer andre, wenn er sie beschirmt,
32Mit Härt und Vorwurf quälet,
33Und ohne Nachsicht straft und stürmt,
34So bald sein Nächster fehlet;
35Wie bleibt bei seinem Ungestüm
36Die Liebe Gottes wohl in ihm?
37Wer für der Armen Heil und Zucht
38Mit Rat und Tat nicht wachet,
39Dem Übel nicht zu wehren sucht,
40Das oft sie dürftig machet;
41Nur sorglos ihnen Gaben gibt;
42Der hat sie wenig noch geliebt.
43Wahr ist es, du vermagst es nicht,
44Stets durch die Tat zu lieben.
45Doch bist du nur geneigt, die Pflicht
46Getreulich auszuüben,
47Und wünschest dir die Kraft dazu,
48Und sorgst dafür: so liebest du.
49Ermattet dieser Trieb in dir:
50So such ihn zu beleben.
51Sprich oft: Gott ist die Lieb, und mir
52Hat er sein Bild gegeben.
53Denk oft: Gott, was ich bin, ist dein;
54Sollt ich, gleich dir, nicht gütig sein?
55Wir haben
56Sind
57Drum diene deinem Nächsten gern;
58Denn wir sind alle Brüder.
59Gott schuf die Welt nicht bloß für mich;
60Mein Nächster ist sein Kind, wie ich.
61Ich sollte Brüder hassen,
62Die Gott durch seines Sohnes Blut
63So hoch erkaufen lassen?
64Daß Gott mich schuf, und mich versühnt,
65Hab ich dies mehr, als sie, verdient?
66Du schenkst mir täglich so viel Schuld,
67Du Herr von meinen Tagen!
68Ich aber sollte nicht Geduld
69Mit meinen Brüdern tragen?
70Dem nicht verzeihn, dem du vergibst,
71Und den nicht lieben, den du liebst?
72Was ich den Frommen hier getan,
73Dem Kleinsten auch von diesen,
74Das sieht Er, mein Erlöser, an,
75Als hätt ich's ihm erwiesen.
76Und ich, ich sollt ein Mensch noch sein,
77Und Gott in Brüdern nicht erfreun?
78Ein unbarmherziges Gericht
79Wird über den ergehen,
80Der nicht barmherzig ist, der nicht
81Die rettet, die ihn flehen.
82Drum gib mir, Gott! durch deinen Geist
83Ein Herz, das dich durch Liebe preist.