Wilhelm Busch: Das brave Lenchen (1870)

1Auf einem Schlosse fern im Holz
2wohnt eine Frau gar reich und stolz.
3In einem Hüttchen arm und klein
4wohnt Lenchen und ihr Mütterlein.
5Das Mütterlein ist schwach und krank
6und ohne Geld und Speis und Trank.

7Da denkt das Lenchen: »Ach, ich lauf
8um Hilfe nach dem Schloß hinauf!«

9Es nimmt sich nichts wie einen Schnitt
10vom allerletzten Brote mit.
11Und wie es kommt bis an den Steg,
12sitzt da ein armer Hund am Weg.
13»ach!« – ruft der Hund – »mein Herr ist tot;
14hätt' ich doch nur ein Stückchen Brot!«

15»hier!« – spricht das Lenchen – »hast du was!«
16zieht's Brot hervor und gibt ihm das.
17Und wie es weiter fortgerannt,

18liegt da ein Fisch auf trocknem Sand.
19»ach!« – ruft der Fisch und zappelt sehr –
20»wenn ich doch nur im Wasser wär!«

21Gleich bückt das Lenchen sich danach
22und trägt ihn wieder in den Bach.
23Dann ist es weiter fortgerannt,
24bis es die Frau im Schlosse fand. –

25»ach, liebe Frau, erbarmt euch mein,
26ich hab ein krankes Mütterlein!«

27»fort!« – schreit die Frau – »nichts gibt es hier!«
28und jagt das Lenchen vor die Tür.

29Das Lenchen sieht vor Tränen kaum
30und setzt sich stumm an einen Baum.
31Und horch, im hohlen Baum erklingt
32ein feines Stimmlein, welches singt:
33»mach auf, mach auf, ich bitt gar schön,
34möcht gern die liebe Sonne sehn!«
35Im Baum da ist ein Löchlein rund,
36ist zugesteckt mit einem Spund.

37Den zieht das Lenchen aus und spricht:
38»so komm ans Licht, du armer Wicht!«
39Sieh da, und eine Schlange schmiegt
40sich aus dem Baum hervor und kriecht
41und schlingt und schlängelt mit Gezisch
42sich in das dichte Waldgebüsch,
43und raschelt da herum und kam
44und bracht ein Blümlein wundersam.

45O Krankentrost, du Blümlein rot,
46Herztulipan, hilf aus der Not!

47Das Lenchen nimmt das Blümlein an
48und eilt nach Haus so schnell es kann.

49Und wie es kommt bis über'n Steg,
50tritt ihm ein Räuber in den Weg.
51Dem armen Lenchen stockt das Blut,
52läßt's Blümlein fallen in die Flut.

53Da kommt der Hund und jagt zum Glück
54Den Räuber in den Wald zurück.

55Und unser Fisch ist auch nicht faul;
56er trägt die Blume in dem Maul.

57Jetzt läuft das Lenchen schnell hinein
58zum lieben kranken Mütterlein,
59legt's Blümlein ihr auf Herz und Mund,
60macht's Mütterlein sogleich gesund;
61heilt auch noch sonst viel kranke Leut
62und ist aus aller Not befreit.

63Der Räuber aber hat bei Nacht
64Die Frau im Schlosse totgemacht.

(Aus: Haider, Thomas. A Large Annotated Reference Corpus of New High German Poetry. In: Proceedings of the 2024 Joint International Conference on Computational Linguistics, Language Resources and Evaluation (LREC-COLING 2024), S. 677–683, Torino, Italia. ELRA and ICCL. 2024.)

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Dieses Gedicht könnte aus folgender Literaturepoche stammen:
Author

Wilhelm Busch (1832-1908)

* 04/15/1832 in Wiedensahl, † 01/09/1908 in Mechtshausen

männlich, geb. Busch

deutscher Verfasser von satirischen in Verse gefassten Bildergeschichten (1832-1908)

(Aus: Wikidata.org)

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