Wilhelm Busch: Erstes Kapitel (1870)

1Wie wohl ist dem, der dann und wann
2Sich etwas Schönes dichten kann!

3Der Mensch, durchtrieben und gescheit,
4Bemerkte schon seit alter Zeit,
5Daß ihm hienieden allerlei
6Verdrießlich und zuwider sei.
7Die Freude flieht auf allen Wegen;
8Der Ärger kommt uns gern entgegen.
9Gar mancher schleicht betrübt umher;
10Sein Knopfloch ist so öd und leer.
11Für manchen hat ein Mädchen Reiz,
12Nur bleibt die Liebe seinerseits.
13Doch gibt's noch mehr Verdrießlichkeiten.
14Zum Beispiel läßt sich nicht bestreiten:
15Die Sorge, wie man Nahrung findet,
16Ist häufig nicht so unbegründet.
17Kommt einer dann und fragt: Wie geht's?
18Steht man gewöhnlich oder stets
19Gewissermaßen peinlich da,
20Indem man spricht: Nun, so lala!
21Und nur der Heuchler lacht vergnüglich
22Und gibt zur Antwort: Ei, vorzüglich!
23Im Durchschnitt ist man kummervoll
24Und weiß nicht, was man machen soll. –

25Nicht so der Dichter. Kaum mißfällt
26Ihm diese altgebackne Welt,
27So knetet er aus weicher Kleie
28Für sich privatim eine neue
29Und zieht als freier Musensohn
30In die Poetendimension,
31Die fünfte, da die vierte jetzt
32Von Geistern ohnehin besetzt.
33Hier ist es luftig, duftig, schön,
34Hier hat er nichts mehr auszustehn,
35Hier aus dem mütterlichen Busen
36Der ewig wohlgenährten Musen
37Rinnt ihm der Stoff beständig neu
38In seine saubre Molkerei.
39Gleichwie die brave Bauernmutter.
40Tagtäglich macht sie frische Butter.
41Des Abends spät, des Morgens frühe
42Zupft sie am Hinterleib der Kühe
43Mit kunstgeübten Handgelenken
44Und trägt, was kommt, zu kühlen Schränken,
45Wo bald ihr Finger, leicht gekrümmt,
46Den fetten Rahm, der oben schwimmt,
47Beiseite schöpft und so in Masse
48Vereint im hohen Butterfasse.
49Jetzt mit durchlöchertem Pistille
50Bedrängt sie die geschmeid'ge Fülle.
51Es kullert, bullert, quitscht und quatscht,
52Wird auf und nieder durchgematscht,
53Bis das geplagte Element
54Vor Angst in Dick und Dünn sich trennt.
55Dies ist der Augenblick der Wonne.
56Sie hebt das Dicke aus der Tonne,
57Legt's in die Mulde, flach von Holz,
58Durchknetet es und drückt und rollt's,
59Und sieh, in frohen Händen hält se
60Die wohlgeratne Butterwälze.

61So auch der Dichter. – Stillbeglückt
62Hat er sich was zurechtgedrückt
63Und fühlt sich nun in jeder Richtung
64Befriedigt durch die eigne Dichtung.
65Doch guter Menschen Hauptbestreben
66Ist, andern auch was abzugeben.
67Der Dichter, dem sein Fabrikat
68So viel Genuß bereitet hat,
69Er sehnt sich sehr, er kann nicht ruhn,
70Audi andern damit wohlzutun;
71Und muß er sich auch recht bemühn,
72Er sucht sich wen und findet ihn;
73Und sträubt sich der vor solchen Freuden,
74Er kann sein Glück mal nicht vermeiden.
75Am Mittelknopfe seiner Weste
76Hält ihn der Dichter dringend feste,
77Führt ihn beiseit zum guten Zwecke
78In eine lauschig stille Ecke,
79Und schon erfolgt der Griff, der rasche,
80Links in die warme Busentasche,
81Und rauschend öffnen sich die Spalten
82Des Manuskripts, die viel enthalten.
83Die Lippe sprüht, das Auge leuchtet,
84Des Lauschers Bart wird angefeuchtet,
85Denn nah und warm, wie sanftes Flöten,
86Ertönt die Stimme des Poeten. –
87Vortrefflich! ruft des Dichters Freund;
88Dasselbe, was der Dichter meint;
89Und, was er sicher weiß, zu glauben,
90Darf sich doch jeder wohl erlauben.

91Wie schön, wenn dann, was er erdacht,
92Empfunden und zurechtgemacht,
93Wenn seines Geistes Kunstprodukt,
94Im Morgenblättchen abgedruckt,
95Vom treuen Kolporteur geleitet,
96Sich durch die ganze Stadt verbreitet.
97Das Wasser kocht. – In jedem Hause,
98Hervor aus stiller Schlummerklause,
99Eilt neugestärkt und neugereinigt,
100Froh grüßend, weil aufs neu vereinigt,
101Hausvater, Mutter, Jüngling, Mädchen
102Zum Frühkaffee mit frischen Brötchen.
103Sie alle bitten nach der Reihe
104Das Morgenblatt sich aus, das neue,
105Und jeder stutzt und jeder spricht:
106Was für ein reizendes Gedicht!
107Durch die Lorgnetten, durch die Brillen,
108Durch weit geöffnete Pupillen,
109Erst in den Kopf, dann in das Herz,
110Dann kreuz und quer und niederwärts
111Fließt's und durchweicht das ganze Wesen
112Von allen denen, die es lesen.
113Nun lebt in Leib und Seel der Leute,
114Umschlossen vom Bezirk der Häute
115Und andern warmen Kleidungsstücken,
116Der Dichter fort, um zu beglücken,
117Bis daß er schließlich abgenützt,
118Verklungen oder ausgeschwitzt.

119Ein schönes Los! Indessen doch
120Das allerschönste blüht ihm noch.
121Denn Laura, seine süße Qual,
122Sein Himmelstraum, sein Ideal,
123Die glühend ihm entgegenfliegt,
124Besiegt in seinen Armen liegt,
125Sie flüstert schmachtend inniglich:
126»göttlicher Mensch, ich schätze dich!
127Und daß du so mein Herz gewannst,
128Macht bloß, weil du so dichten kannst!!«

129Oh, wie beglückt ist doch ein Mann,
130Wenn er Gedichte machen kann!

(Aus: Haider, Thomas. A Large Annotated Reference Corpus of New High German Poetry. In: Proceedings of the 2024 Joint International Conference on Computational Linguistics, Language Resources and Evaluation (LREC-COLING 2024), S. 677–683, Torino, Italia. ELRA and ICCL. 2024.)

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Dieses Gedicht könnte aus folgender Literaturepoche stammen:

Wilhelm Busch (1832-1908)

* 04/15/1832 in Wiedensahl, † 01/09/1908 in Mechtshausen

männlich, geb. Busch

deutscher Verfasser von satirischen in Verse gefassten Bildergeschichten (1832-1908)

(Aus: Wikidata.org)

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