Friedrich Hölderlin: Der blinde Sänger (1826)

1Wo bist Du, Jugendliches! das immer mich
2Zur Stunde weckt des Morgens, wo bist Du,
3Licht?
4Das Herz ist wach, doch hält und hemmt in
5Heiligem Zauber die Nacht mich immer.

6Sonst lauscht ich um die Dämmerung gern, sonst
7harrt'
8Ich gerne Dein am Hügel, und nie umsonst!
9Nie täuschten mich, Du Holdes! Deine
10Boten, die Lüfte, denn immer kamst Du,

11Kamst allbeseligend den gewohnten Pfad
12Herein in Deiner Schöne, wo bist Du Licht?
13Das Herz ist wieder wach, doch bannt und
14Hemmt die unendliche Nacht mich immer.

15Mir grünten sonst die Lauben, es leuchteten
16Die Blumen, wie die eignen Augen, mir,
17Nicht ferne war das Angesicht der
18Lieben, und leuchtete mir, und droben

19Und um die Wälder sah ich die Fittige
20Des Himmels fliegen, da ich ein Jüngling war;
21Nun sitz' ich still allein, von einer
22Stunde zur anderen, und Gestalten

23Aus Lieb und Leid der helleren Tage schafft,
24Zur eignen Freude nun mein Gedanke sich,
25Und ferne lausch' ich hin, ob nicht ein
26Freundlicher Retter vielleicht mir komme.

27Dann hör' ich oft den Wagen des Donneres
28Am Mittag, wenn der eherne nahe kommt
29Und ihm das Haus bebt, und der Boden
30Unter ihm dröhnt, und der Berg es nachhallt.

31Den Retter hör' ich dann in der Nacht, ich hör'
32Ihn tödtend, den Befreier, belebend ihn,
33Den Donnerer, vom Untergang zum
34Orient eilen und ihm nach tönt ihr,

35Ihr meiner Seele Saiten! es lebt mit ihm
36Mein Geist, und wie die Quelle dem Strome folgt,
37Wohin er trachtet, so geleit' ich
38Gerne den Sicheren auf der Irrbahn.

39Wohin? wohin? ich höre Dich da und dort,
40Du Herrlicher! und rings um die Erde tönt's!
41Wo endest Du? und was, was ist es
42Ueber den Wolken? und o wie wird mir!

43Tag! Tag! Du über stürzenden Wolken! sey
44Willkommen mir! es blühet mein Auge Dir.
45O Jugendlicht! o Glück! das alte
46Wieder! doch geistiger rinnst Du nieder,

47Du goldner Quell aus heiligem Kelch! und Du,
48Du grüner Boden! friedliche Wieg'! und Du,
49Haus meiner Väter! und ihr Lieben,
50Die mir begegneten einst, o nahet,

51O kommt, daß euer, euer die Freude sey,
52Ihr alle! daß euch segne der Sehnende!
53O nehmt, daß ich's ertrage, mir das
54Leben, das Göttliche mir vom Herzen!

(Hölderlin, Friedrich: Gedichte. Stuttgart u. a., 1826.Aus: Haider, Thomas. A Large Annotated Reference Corpus of New High German Poetry. In: Proceedings of the 2024 Joint International Conference on Computational Linguistics, Language Resources and Evaluation (LREC-COLING 2024), S. 677–683, Torino, Italia. ELRA and ICCL. 2024.)

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Dieses Gedicht könnte aus folgender Literaturepoche stammen:
Author

Friedrich Hölderlin (1770-1843)

* 03/20/1770 in Lauffen am Neckar, † 06/07/1843 in Tübingen

männlich, geb. Q114498136

deutscher Lyriker (1770-1843)

(Aus: Wikidata.org)

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