Richard Fedor Leopold Dehmel: Erscheinung (1891)

1So müd hinschwand es in die Nacht,
2sein flehendes Lied, sein Bogenstrich;
3und seufzend bin ich aufgewacht.
4Wie hat er mich so sanft gemacht,
5so sanft und klar
6der Traum – und war
7doch also trüb und feierlich.

8Hoch hing der Mond; das Schneegefild
9lag weit und öde um mich her,
10wie meine Seele weit und leer.
11Und neben mir – so kalt und wild,
12so stumm und stolz wie meine Not,
13als wollt' er weichen nimmermehr,
14saß starr – und wartete – der Tod.

15Da kam es her, wie einst so mild,
16so bang und sacht,
17aus ferner Nacht;
18so kummerschwer
19kam seiner Geige Hauch daher,
20und vor mir stand sein stilles Bild.

21Der mich umflochten wie ein Band,
22daß meine Blüte nicht zerfiel
23und daß mein Herz die Sehnsucht fand,
24so müd er nun, so trüb er stand,
25und stand so dumpf und feierlich,
26und sah nicht auf, noch grüßte mich, –
27nur seine Töne ließ er irr'n
28und weinen durch die bleiche Flur,
29und mir entgegen schaute nur
30auf seiner Stirn,
31ein Auge hohl und rot und fahl,
32der tiefen Wunde dunkles Mal.

33Und trüber quoll das trübe Lied,
34und quoll so heiß, und wuchs und schwoll,
35so heiß und voll
36wie Leben, das nach Liebe glüht, –
37wie Liebe, die nach Leben schreit,
38nach ungenoßner Seligkeit,
39so wehevoll,
40so wühlend quoll
41das strömende Lied und flutete, –
42und leise leise blutete
43und strömte
44auf seiner Stirne, rot und fahl,
45der tiefen Wunde dunkles Mal.

46Und müder glitt die müde Hand,
47und vor mir stand
48ein blasser Tag,
49ein ferner blasser Jugendtag,
50da dumpf im Sand
51zerfallen
52da seine Sehnsucht
53in ihrer Schwermut Uebermaß
54und seiner Traurigkeiten müd
55und lauter weinte auf das Lied,
56das mahnende Lied, und flutete,
57und seiner Saiten Klage schnitt
58und seine Wunde blutete
59und weinte
60in meiner Seele starre Not,
61als sollt' ich hören ein Gebot,
62als sollt' ich
63und fühlen alles Leidens
64und alles Lebens süße Huld, –
65und also, blutend, wandt' er sich
66ins bleiche Dunkel – und verblich.

67Und bebend hört' ich hohl vergehn,
68entfliehn das Lied, und wie so zart
69so zitternd ward
70der langen Töne fernes Flehn, –
71und fühlte kalt ein Rauschen wehn
72und grauenschwer
73die Luft sich rühren um mich her,
74und wollte bebend doch ihn
75Der wartend saß bei meiner Not,
76und wandte mich, – da lag es kahl.
77das weiße Feld: und still und fahl
78zog fern vondannen – auch der Tod.

79Hoch hing der Mond; und mild und müd
80hinschwand es in die leere Nacht,
81das flehende Lied, –
82und schwand und schied,
83des toten Freundes flehendes Lied;
84und seufzend bin ich aufgewacht.

(Aus: Haider, Thomas. A Large Annotated Reference Corpus of New High German Poetry. In: Proceedings of the 2024 Joint International Conference on Computational Linguistics, Language Resources and Evaluation (LREC-COLING 2024), S. 677–683, Torino, Italia. ELRA and ICCL. 2024.)

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Dieses Gedicht könnte aus folgender Literaturepoche stammen:
Author

Richard Dehmel (1863-1920)

* 11/18/1863 in Münchehofe, † 02/08/1920 in Blankenese

männlich, geb. Dehmel

Nationalökonom, deutscher Dichter und Schriftsteller

(Aus: Wikidata.org)

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