Friedrich Hölderlin: Die Wanderung (1826)

1Glückselig Sunvien, meine Mutter!
2Auch du, der glänzenderen, der Schwester
3Lombarda drüben gleich,
4Von hundert Bächen durchflossen!
5Und Bäume genug, weißblühend und röthlich,
6Und dunklere, wild, tief grünendes Laub's voll —
7Und Alpengebirg auch überschattet,
8Uraltes, dich; denn nah dem Herde des Hauses
9Wohnst du, und hörst, wie drinnen
10Aus silbernen Opferschalen
11Der Quell rauscht, ausgeschüttet
12Von reinen Händen, wenn berührt
13Von warmen Stralen
14Krystallenes Eis, und umgestürzt
15Vom leichtanregenden Lichte
16Der schneeige Gipfel übergießt die Erde
17Mit reinestem Wasser. Darum ist
18Dir angeboren die Treue. Schwer verläßt
19Was nahe dem Ursprung wohnet, den Ort.
20Und deine Kinder, die Städte
21Am weithindämmernden See,
22An Neckars Weiden, am Rheine,
23Sie alle meinen, es wäre
24Sonst nirgend besser zu wohnen.
25Ich aber will dem Kaukasos zu!
26Denn sagen hört' ich
27Noch heut in den Lüften:
28Frei sey'n, wie Schwalben, die Dichter.
29Auch hat in jüngern Tagen
30Sonst Eines mir vertraut:
31Es seyen vor alter Zeit
32Die Unsrigen einst, ein sinnig Geschlecht,
33Still fortgezogen von Wellen der Donau,
34Dort mit der Sonne Kindern
35Am Sommertage, da diese
36Sich Schatten suchten, zusammen
37Am schwarzen Meere gekommen,
38Und nicht umsonst sey dieß
39Das gastfreundliche genennet.
40Denn als ihr Staunen vorüber war,
41Da nahten die Andern zuerst; dann setzten auch
42Die Unseren sich neugierig unter den Oelbaum.
43Doch, als sich ihre Gewande berührt,
44Und Keiner vernehmen konnte
45Die eigene Rede des Andern, wäre wohl
46Entstanden ein Zwist, wenn nicht aus Zweigen
47herunter
48Gekommen wäre die Kühlung,
49Die Lächeln über das Angesicht
50Der Streitenden öfters breitet; und eine Weile
51Sah'n still sie auf. Dann reichten sie sich
52Die Hände liebend einander. Und bald
53Vertauschten sie Waffen und all'
54Die lieben Güter des Hauses,
55Vertauschten das Wort auch und es wünschten
56Die freundlichen Väter umsonst nichts
57Beim Hochzeitjubel den Kindern.
58Denn aus den Heiligvermählten
59Wuchs schöner, denn Alles,
60Was vor und nach
61Von Menschen sich nannt', ein Geschlecht auf.
62Wo aber wohnt ihr, liebe Verwandten,
63Daß wir das Bündniß wiederbegehn,
64Und der theuern Ahnen gedenken?
65Dort an den Ufern, unter den Bäumen
66Ionias, in Ebenen des Kaystros,
67Wo Kraniche, des Aethers froh,
68Umschlossen sind von fernhindämmernden Bergen,
69Dort wart auch ihr, ihr Schönsten! oder pflegtet
70Der Inseln, die, mit Wein bekränzt,
71Voll tönten von Gesang; noch Andere wohnten
72Am Tayget, am vielgepriesnen Hymettos,
73Und diese blühten zuletzt. Doch von
74Parnassos Quell bis zu des Tmolos
75Goldglänzenden Bächen erklang
76Ein ewig Lied, So rauschten
77Die heiligen Wälder und all'
78Die Saitenspiele zusammt,
79Von himmlischer Milde gerühret.
80O Land des Homer!
81Am purpurnen Kirschbaum, oder wenn,
82Von dir gesandt, im Weinberg mir
83Die jungen Pfirsiche grünen,
84Und die Schwalbe fernher kommt und Vieles er-
85zählend
86An meinen Wänden ihr Haus baut, in
87Den Tagen des Mais, auch unter den Sternen
88Gedenk' ich, o Ionia! dein. Doch Menschen
89Ist Gegenwärtiges lieb. Drum bin ich
90Gekommen, euch, ihr Inseln, zu sehn und euch,
91Ihr Mündungen der Ströme, o ihr Hallen der
92Thetis,
93Ihr Wälder euch, und euch, ihr Wolken des Ida!
94Doch nicht zu bleiben gedenk' ich,
95Unfreundlich ist und schwer zu gewinnen
96Die Verschlossene, der ich entkommen, die Mutter.
97Von ihren Söhnen einer, der Rhein,
98Mit Gewalt wollt' er an's Herz ihr stürzen und
99schwand,
100Der Zurückgestoßene, niemand weiß, wohin in die
101Ferne.
102Doch so nicht wünscht' ich gegangen zu seyn
103Von ihr, und nur euch einzuladen
104Bin ich zu euch, ihr Grazien Griechenlands,
105Ihr Himmelstöchter gewandert,
106Daß wenn die Reise zu weit nicht ist,
107Zu uns ihr kommet, ihr Holden!
108Wenn milder athmen die Lüfte,
109Und liebende Pfeile der Morgen
110Uns Allzugeduldigen schickt,
111Und leichte Gewölke blühn
112Uns über den schüchternen Augen,
113Dann werden wir sagen, wie kommt,
114Ihr Charitinnen, zu Wilden?
115Die Dienerinnen des Himmels
116Sind aber wunderbar,
117Wie alles Göttlichgeborne.
118Zum Traume wird's ihm, will es Einer
119Beschleichen und straft den, der
120Ihm gleichen will mit Gewalt.
121Oft überrascht es den,
122Der eben kaum es gehofft hat.

(Hölderlin, Friedrich: Gedichte. Stuttgart u. a., 1826.Aus: Haider, Thomas. A Large Annotated Reference Corpus of New High German Poetry. In: Proceedings of the 2024 Joint International Conference on Computational Linguistics, Language Resources and Evaluation (LREC-COLING 2024), S. 677–683, Torino, Italia. ELRA and ICCL. 2024.)

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Author

Friedrich Hölderlin (1770-1843)

* 03/20/1770 in Lauffen am Neckar, † 06/07/1843 in Tübingen

männlich, geb. Q114498136

deutscher Lyriker (1770-1843)

(Aus: Wikidata.org)

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