Justinus Kerner: Die Mühle steht stille (1824)

1Herr Irrwing reitet nachts durchs Tal der Mühle,
2Ein Lichtstrahl folgt ihm und ein Windhauch kühle.
3Herr Irrwing denkt: das ist des Mondes Licht;
4Da haucht es hohl: »Der Mondstrahl redet nicht!«
5Die Mühle steht stille.

6Herr Irrwing denkt: das ist des Baches Tönen!
7Da haucht es hohl: »Vom Bach aus Blut und Tränen!«
8Herr Irrwing spornt sein Roß zu schnellem Lauf,
9Doch plötzlich geht ihm innres Schauen auf.
10Die Mühle steht stille.

11»das ist nicht Mondenstrahl, nicht Baches Wogen,
12Gespenstig kömmt ein Weib mir nachgeflogen,
13Vom Leichentuch getragen, bleich und wund,
14Ein kalter Hauch entströmet ihrem Mund.«
15Die Mühle steht stille.

16Herr Irrwing läßt dem scheuen Roß die Zügel,
17Der Geist doch auf des Leichentuches Flügel
18Ereilt ihn bald und hauchet in die Luft:
19»schnell wie kein Vogel fliegt ein Geist der Gruft.«
20Die Mühle steht stille.

21Und wie Herr Irrwing schaut, sieht er gespalten
22Des Geistes Haupt, er siehet in den kalten,
23Gespenst'gen Schädel, tief bis auf den Grund;
24Da haucht also des Geistes kalter Mund:
25Die Mühle steht stille.

26»schau' diese Spalte, draus entfloh mein Leben,
27Sie hat mein Mann, John Mulling, mir gegeben,
28Der Müller dort, den Sarg schlug selbst er zu
29Und sprach: ›Ein Schlag gab ihr die ew'ge Ruh'!‹«
30Die Mühle steht stille.

31»nun irr' ich ungerochnes Weib als Schatte,
32Johannens jüngern Leib umfängt mein Gatte,
33Die Mühle steht stille.

34»die schläft im Bette mein, hat all mein Habe,
35Hungrig mein Knäblein weint auf meinem Grabe.
36Herr Irrwing! daß Ihr meinen Worten glaubt,
37Werft Euren Goldring mir ins offne Haupt!«
38Die Mühle steht stille.

39Herr Irrwing spricht: »In Jesu Christi Namen
40Werf' ich den Goldring mein ins Haupt dir, Amen!«
41Er wirft den Goldring in der Spalte Blut,
42Zu klappt der Schädel laut, der Wurf war gut.
43Die Mühle steht stille.

44Der Geist verschwindet, aus löscht alle Helle,
45Ein kalter Graus Herrn Irrwing packt zur Stelle,
46Er braucht zu spornen nicht sein weißes Roß,
47Von selber rennt es vor des Richters Schloß.
48Die Mühle steht stille.

49»herr Richter,« spricht er,
50Kommt auf den Kirchhof mit zu Elsbeths Grabe!«
51Sie graben lange da, sie graben tief,
52Bis zu dem Sarge, drin Frau Elsbeth schlief.
53Die Mühle steht stille.

54Sie brechen auf den Deckel, daß es schallte,
55Da liegt die Leiche mit des Schädels Spalte,
56Herr Irrwing spricht: »So war's!« und plötzlich rollt
57Hell aus der Spalte Irrwings Ring von Gold.
58Die Mühle steht stille.

59Was sammeln sich die Raben dort in Banden?
60John Mulling hat die blut'ge Tat gestanden:
61Hoch auf dem Berge bleichet sein Gebein,
62Frau Elsbeth ging in Gottes Himmel ein.
63Die Mühle steht stille.

(Aus: Haider, Thomas. A Large Annotated Reference Corpus of New High German Poetry. In: Proceedings of the 2024 Joint International Conference on Computational Linguistics, Language Resources and Evaluation (LREC-COLING 2024), S. 677–683, Torino, Italia. ELRA and ICCL. 2024.)

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Dieses Gedicht könnte aus folgender Literaturepoche stammen:
Author

Justinus Kerner (1786-1862)

* 09/18/1786 in Ludwigsburg, † 02/21/1862 in Weinsberg

männlich, geb. Kerner

deutscher Dichter, Arzt und medizinischer Schriftsteller

(Aus: Wikidata.org)

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