1Ihr Räthe, merkt in diesem Jahre,
2Merkt, was die treue Fabel schreibt,
3Der Clio Schwester, die das Wahre
4Auch diesem Mährchen einverleibt.
5Daß sie den Hochmuth nicht verletze,
6Nimmt sie den Schein der Einfalt an,
7Obgleich die Weisheit ihrer Sätze
8Orakel übertreffen kann.
9Es herrschte, stolz auf Stand und Ahnen,
10Der große Sultan Leopard,
11Der, stark durch Reich und Unterthanen,
12Durch Bundsgenossen stärker ward.
13Ihm huldigten die schwächern Thiere,
14Vasallisch und mit banger Pflicht;
15Das Wollenvieh und Hirsch und Stiere
16Gehörten vor sein Halsgericht.
17Dem Löwen ward ein Prinz geboren,
18Der Ruf erscholl im Augenblick.
19Es ward auch keine Zeit verloren;
20Man schickt Gesandten, und wünscht Glück.
21Das Schrecken mächtiger Regenten,
22Der Vater, starb, nicht sehr betagt.
23Man übte sich in Complimenten,
24Man schickt Gesandten, lobt und klagt.
25Der Sultan läßt den Brandfuchs kommen,
26Denn dieser Schalk war sein Vizir.
27Du weißt, spricht er, was wir vernommen:
28Der Löw' ist todt; was fürchten wir?
29Der Waise muß sich schon bequemen,
30Und ihn beklag' ich in der That:
31Uns kann er auch kein Zicklein nehmen;
32Er hüte das nur, was er hat.
33Herr, sagt der Fuchs, spart eure Güte
34Für andre Waisen, als für ihn.
35Ihr zieht wol nicht in sein Gebiete;
36Er kann, vielleicht, in eures ziehn.
37Entschmeichelt euch dem nahen Rachen,
38Macht ihn zum nachbarlichen Freund;
39Wollt ihr ihn nicht zum Freunde machen,
40So eilt, und schwächet diesen Feind.
41Zwar bin ich kein Aspectenmesser,
42Allein ich wittre Zank und Krieg,
43Und unsre bärtchen Menschenfresser
44Verhindern nicht des Löwen Sieg.
45Ihm ist das Glück der Waffen eigen,
46Nie wird er, eingeschläfert, ruhn,
47Und, wann sich seine Rotten zeigen,
48Ach! so behalten wir kein Huhn.
49Der Sultan hält die Furcht für eitel,
50Und, so wie Mupf die Lehrer hört,
51Vernimmt er Worte, kratzt die Scheitel,
52Gähnt, und entschlummert unbekehrt.
53Bald aber zeigt die schnelle Strafe
54Die Folgen großer Sicherheit.
55Der Löwe weckt ihn aus dem Schlafe:
56Er kömmt, und mit ihm Muth und Streit.
57Man meldet das den Bundsgenossen,
58Macht Lärm, und schreit verwirrungvoll.
59Lang' ist der Divan unentschlossen,
60Wie man den Einfall hemmen soll.
61Man fragt den Fuchs. Wie sehr gewöhnen
62Wir uns zur blinden Zuversicht!
63Spricht er. Laßt uns den Feind versöhnen,
64Und fremder Hilfe trauet nicht.
65Thun viele Helfer Wunderwerke?
66O nein. Der Löwe hat nur drei:
67Den Muth, die Wachsamkeit, die Stärke,
68Und siegreich stehn ihm diese bei.
69Gebt ihm, daß er nicht mehr entführe,
70Ein Schaf, ein Reh, ein feistes Rind:
71Kurz, eines der geringern Thiere,
72Die unserm Reich entbehrlich sind.
73Sein Vorschlag wird verzagt befunden:
74Der Reichsrath dachte nicht, wie er.
75Man rüstet sich, wird überwunden,
76Und macht sich Krieg und Frieden schwer.
77Dies lehrt uns eine Wahrheit fassen,
78Die Regel der Regierungskunst:
79Wollt ihr den Löwen wachsen lassen,
80So suchet zeitig seine Gunst.