Louise Otto: Die Nacht ist kalt. Ein eisger Morgenwind Titel entspricht 1. Vers(1857)

1Die Nacht ist kalt. Ein eisger Morgenwind
2Klirrt um die dichtgefrornen Fensterscheiben,
3Als wollt mit starrem Hauchen er geschwind
4Die Blumen dran noch immer höher treiben,
5Nur daß es Blumen sind aus Eis und Frost,
6Um die verbuhlte Lieder heult der Ost.

7Gespenstig lacht das Feuer im Kamin.
8Als hab im Zorn es eine Sprache funden,
9Die Sterne, die am hohen Himmel ziehn,
10Sie schimmern hell zu Tausenden verbunden,
11Sie glitzern golden leuchtend wie Krystall –
12In Eis und Schnee bespiegeln sie sich all. –

13Ich sitze einsam bei der Kerze Licht;
14Die Menschen rings sind schlafen schon gegangen,
15Ich wach allein, ich mag die Ruhe nicht,
16Es flieht der Schlaf, wenn Sorgen uns umfangen,
17Wenn sich ein Herz zum heißen Kampfe stählt,
18Für Menschenrecht und Freiheit still sich quält.

19Doch sieh, doch sieh, – ein Lämpchen traurig scheint
20Gegenüber in dem Fensterlein der Hütte,
21Dort sitzt die Klöpplerin noch wach und weint
22Und klöppelt mühsam nach der Mütter Sitte.
23Und klöppelt emsig ohne Ruh' und Rast,
24Daß ihre Wange immer mehr verblaßt.

25Sie klöppelt nicht für Mutter oder Kind,
26Sie klöppelt nur, daß sie nicht selbst erfriere,
27Daß sie sich ehrlich trocknes Brot gewinnt,
28Ihr einzges Gut, die Unschuld, nicht verliere,
29Der längst der reiche Lüstling nachgestellt –
30Sie klöppelt, daß sie nicht vor Hunger – fällt.

31Und horch und horch! an dieser Nebenwand,
32Da klappert noch des Webers schnelle Spule,
33Sie rastet nicht und mit geschickter Hand
34Arbeitet er noch nachts am Webestuhle.
35Das bleiche Weib, der Kinder blasse Schar,
36Er sieht auf sie – und ist des Trostes bar;

37Drum ist er wach, noch um die Mitternacht!
38Wie diese Mitternacht ist all sein Leben!
39Er hat es ruh- und freudenlos verbracht,
40Er hörte Tag und Nacht nicht auf zu weben,
41Und kaum, daß er erhielt den siechen Leib,
42Des Elends Bildnis ist so Kind als Weib.

43Es hat nicht not, daß Ihr mich also mahnt,
44Du arme Schwester an den Klöppelkissen,
45Du armer Bruder, der es schrecklich ahnt,
46Daß Euch das Recht zu leben fast entrissen!
47Dies heilge Recht, das selbst von Gott uns kam
48Und das der Mensch den Menschen dennoch nahm!

49Es hat nicht not! es ist um Euch allein,
50Daß ich wie heute wach zur Nacht gesessen,
51Es ist um Euch, weil Eure Not und Pein,
52Der Armut Gram ich nimmer kann vergessen. –
53Die eignen Sorgen trag ich still und leicht, –
54Es ist um Euch, daß meine Wange bleicht!

55Ich ringe Tage, ringe Nächte lang,
56Und doch wie ihr arbeit auch ich vergebens,
57Mich treibt der Menschenliebe heilger Drang.
58Wie Ihr ernt ich nicht Früchte meines Strebens,
59Doch sonder Zögern ruf ich's in die Welt:
60Zerstört den Bann, der uns umfangen hält!

61Den finstern Bannesfluch von
62Der in zwei Hälften alles Volk geschieden!
63Die ewge Liebe schuf uns
64Verhieß uns allen: Segen, Freiheit, Frieden:
65Ich ringe fort bis sich der Spruch erfüllt:

(Aus: Haider, Thomas. A Large Annotated Reference Corpus of New High German Poetry. In: Proceedings of the 2024 Joint International Conference on Computational Linguistics, Language Resources and Evaluation (LREC-COLING 2024), S. 677–683, Torino, Italia. ELRA and ICCL. 2024.)

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Dieses Gedicht könnte aus folgender Literaturepoche stammen:

Louise Otto (1819-1895)

* 03/26/1819 in Meißen, † 03/13/1895 in Leipzig

weiblich, geb. Otto

sozialkritische Schriftstellerin, Demokratin und eine Mitbegründerin der bürgerlichen deutschen Frauenbewegung

(Aus: Wikidata.org)

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