Johann Christian Günther: Auf den Tod seiner geliebten Flavie (1709)

1Stirbt meine Flavie, so klagen meine Flöthen,
2Der Schlag, so sie gefällt, muß mich auch selber tödten.
3Die Schönheit und ihr Kind, mein Leben, sinckt ins Grab,
4Das meine Lust vergräbt. Was mir der Himmel gab,
5Nimm jezt die Erde hin. Der Zierrath aller Wälder,
6Der Ausbund aller Treu, macht der Elyser Felder
7Durch seinen Tod beglückt. Die ewig schwarze Nacht
8Verhüllt mein Sonnenlicht. Was mir das Leben bracht,
9Geht zu den Todten hin. Der Augen holden Sterne
10Verlieren Glanz und Schein. Die Schale liegt vom Kerne
11Zusamt den Schlacken hier, und der beredte Mund
12Macht durch ein stummes Wort die lezte Rede kund.

13Stirbt meine Flavie, so klagen meine Flöthen,
14Der Schlag, der sie betrift, muß mich auch selber tödten.
15Die Ohnmacht hängt mir zu. Der Parzen Urthelstab
16Reißt meiner Flavie den Schönheitspurpur ab.
17Die Äcker fühlen es. Die Zierligkeit der Blätter
18Verläst den dürren Stamm, wie wenn ein Donnerwetter
19Die grünen Äste theilt. Es seufzen Feld und Wald,
20Da ein gebrochen Wort in seinen Thälern schallt
21Und ihren Tod beklagt. In den bestürzten Flüßen
22Sieht man der Nymphen Schaar die Thränen häufig gießen.
23Die Hügel stehn gebückt, die hohlen Gründe schreyn:
24Geht meine Flavie, geht mein Vergnügen ein.

25Stirbt meine Flavie, so klagen meine Flöthen,
26Der Schlag, so sie gerührt, muß mich auch selber tödten.
27Die Pallas und das Volck der Schäfer grämen sich
28Um ihre Schäferin, die sie so inniglich,
29So ungemein geliebt, da die zerstreuten Hirten
30Die Lenden mit Napell, den Leib mit Jammer gürthen.
31Das angenehme Vieh der Schaafe liegt gestreckt,
32Ihr Blöcken, das dich ruft, doch aber nicht erweckt,
33Betäubet fast mein Ohr. Ich selber bin verlaßen,
34Ich kan vor Kummer kaum mich und mein Herze faßen,
35Dem nun das Herze fehlt. Wenn meine Sehnsucht ruft:
36Wo bistu, Flavie?, so hört es nur die Gruft.

37Stirbt meine Flavie, so klagen meine Flöthen,
38Der Schlag, so sie gefällt, muß mich auch selber tödten.
39Zuvor versorgte Schaar, nunmehr verwaistes Vieh,
40Betrübten Lämmer, klagt; mein Engel wird euch nie,
41So wie zuvor geschehn, an jenen Silberbächen
42Des Hungers Macht mit Klee, den Durst mit Waßer brechen
43Noch, wenn der Tag sich kühlt, der Berge Schatten wächst
44Und eure Müdigkeit nach ihren Ställen lechst,
45Euch mit gefüllter Hand das Abendfutter reichen.
46Kommt, lieben Schaafe, kommt, verlast die wilden Eichen,
47Wo Schröcken und Gefahr sich mit den Wölfen paart;
48Ihr seyd bey mir so gut als irgendwo verwahrt.
49Ich will euch günstig seyn, ich will euch immer lieben,
50In meine Hürden thun, zu meiner Heerde schieben.
51Ihr sollt fast jeden Tag auf frische Triften gehn,
52In Blumen, Graß und Klee bis an die Bäuche stehn.
53Geht jezo, wo ihr wollt, der Weide zu genießen,
54Doch hütet euch, daß ihr nicht mit den bloßen Füßen
55Den werthen Berg entehrt, das Heiligthum entweiht,
56Wo meiner Liebsten Gruft mir auch mein Sterben dräut.

57Stirbt meine Flavie, so klagen meine Flöthen,
58Der Schlag, der sie entseelt, muß mich auch selber tödten.
59Betrübtes Heiligthum und du bemooster Berg,
60Wo meine Flavie, der Schönheit Wunderwerck,
61In todte Thäler steigt, auf deinen Angstgebürgen
62Wird Kummer, Angst und Leid mich endlich noch erwürgen
63Und in die Erde ziehn. Dein grünes Sommerkleid
64Mehrt meine Hofnung nicht; des Todes Bitterkeit
65Vergällt mir alle Lust. Bey diesem Leichensteine,
66Der meiner Flavien geliebteste Gebeine
67Bedeckt, doch nicht beschwert, vergeht mein Paradies.
68Die, so im Leben schon mein ander Leben hies,
69Zieht endlich einen Theil von meiner treuen Seele
70Mit der Beständigkeit in ihre Grabeshöhle,
71Die meinen Schmerzen weis und meinen Kummer kennt,
72Die meine Klagen zwar gerecht und zärtlich nennt,
73Nicht aber widerlegt. Bringt Blumen und Violen,
74Last Narden und Jasmin aus fremden Ländern holen,
75Salbt den erblasten Leib, beräuchert Gruft und Sarg
76Mit Ambra und Zibeth, ja, zieht das beste Marck
77Aus Perlen, Gold und Stein, belebt die kalten Glieder
78Mit warmen Mumien, vielleicht erwacht sie wieder.
79Doch wer im Tode schläft, der schläft nicht eher aus,
80Bis ihn der Himmel weckt und sich das Sternenhaus
81Zu seinem Bette naht. Ach widriges Geschicke!
82Denckt mein betrübter Sinn an die beliebten Blicke,
83Die ich vor kurzer Zeit – Schweig, die Erinnerung
84Der Lust vermehrt die Last. Drum sey es auch genung
85Bedacht, doch nicht beklagt, beweint, doch nicht vergeßen.
86Man darf die Trübsahl nicht nach vielen Thränen meßen,
87Weil oft das gröste Leid mit trocknen Dingen weint,
88Ja, oft ein Donner kommt, wenn gleich die Sonne scheint
89Und sich kein Regen regt. Doch ihr geweihten Hügel,
90Wo meine Klagen selbst der Morgenröthe Flügel
91Und Hesperus beklagt, straft meinen Vorsaz nicht,
92Der seiner Flavie die lezte Treu verspricht,
93Sich nun und nimmermehr von hinnen zu entfernen,
94Von dieser Gruft zu gehn, bis ihn der Rath der Sternen
95Zu seinem Sterne bringt, der nun verklärter strahlt
96Und in der Ewigkeit die Sternenzimmer mahlt.
97Du meines Lebens Tod und du mein todtes Leben,
98Erblaste Flavie, mein Sinn bleibt dir ergeben,
99Mein Wille dir geschenckt, mein Wollen zugethan;
100Ach, daß ich's, wie ich will, nicht gut besingen kan,
101Nicht recht beschreiben darf. Es soll gleichwohl indeßen
102Dein Grabmahl, deine Gruft, von Lorbeern und Cypreßen
103Erhöht und lustig stehn. Ein jährlich Trauerfest
104(wer weis, ob mich der Tod gar lange trauern läst!)
105Soll dir gewidmet seyn. Ein Kranz von Myrthenzweigen,
106Den viele Tropfen Blut statt der Rubinen beugen,
107Soll um den morschen Schlaf ein traurig Merckmahl ziehn,
108Daß diese Blätter noch wie meine Liebe blühn,
109Wie meine Treu bestehn, wie meine Flammen dauren.
110Vielleichte rühret sich (der Wein kann nicht versauren,
111Den uns die Hofnung schenckt,) der aufgescharrte Sand
112Und macht den Todten auch mein Opferlied bekand.

113Stirbt meine Flavie, so klagen meine Flöthen,
114Der Schlag, der sie betäubt, muß mich auch selber tödten.
115Der Kindheit Morgen warf den Zunder in die Brust,
116Der nach und nach entglamm; die erste Liebeslust
117War Spiel und Dockenwerck. Ich war dir schon gewogen,
118Als aus den Wangen noch kein Haar die Milch gesogen.
119Wir waren schwach und klein, die Liebe starck und groß
120Und größer als wir selbst. Oft trug uns eine Schoos,
121Oft führt' uns eine Hand, noch öfter das Verlangen.
122Wie öfters hat uns nicht ein kindliches Umfangen
123Die Armen schwer und blau wie selbsten laß gemacht!
124Uns nahm die Wärterin, wir unsre Lust in Acht.
125Wir spielten in der Zeit, wir scherzten mit den Jahren,
126Sie aber auch mit uns. Ach Schmerz, den ich erfahren,
127Der mir nun Schmerz gebiehrt! Auch unser Unverstand
128Verstand die Liebe schon. Ein doppelt Wiegenband
129Verknüpfte mich und sie. Wo sind dieselben Tage?
130Vergänglichkeit und Tod erörtert diese Frage
131Durch einen Todtenkopf. Ach Antwort ohne Wort,
132Obgleich nicht ohne Mund! Höchstangenehmer Ort,
133Höchstangenehmes Feld, wo meine Heerde gieng
134Und meine Ziegenschaar an jenen Klippen hing,
135Wo ich und Flavie das schöne Lustgefilde
136Bewundert und beschaut, wie von dem frechen Wilde
137Die Wälder zitterten, wenn Erd und Luft erklang,
138Da meine Flavie in diese Flöthe sang.
139Hier trieben wir die Zucht der Lämmer oft zusammen,
140Dort sah ein Ulmenbaum die unentweihten Flammen,
141Hier warf der müde Schlaf mein Haupt ihr in die Schoos,
142Dort riß der Sommer uns die Oberkleider los.
143In diesem jungen Heu vermieden wir das Schwizen,
144Bey dieser Buche schlug ein unerhörtes Blizen
145Dir den Melampus todt, hier hub sich unser Bund
146Mit unsrer Jugend an, hier ward mein Leib verwundt
147Und auch dein Geist betrübt, als mir der Fuß entglitten;
148Hier half die Dämmerung mir deinen Sinn erbitten,
149Daß du den Hirtenstab an einen Baum gelehnt,
150Die Tasche abgeschält und dich mit mir gewöhnt,
151Auch ohne Federn uns ein Lager aufzubetten,
152Auf dem die Glieder Ruh, die Kräfte Stärckung hätten.
153Oft sah der Morgen uns und unsrer Liebe zu,
154Oft gab der Abend uns und unsrer Liebe Ruh.
155Bald überlegten wir die überlebten Zeiten,
156Bald die zukünftigen, auf die wir uns schon freuten.
157Bald schwazten wir uns viel von Hochzeitmachen vor,
158Bald von Beständigkeit; bald hielt dein kluges Ohr
159An meiner Poesie, bald lechste mein Verlangen
160Nach deiner Gegenwart, die, wenn du mir entgangen,
161Den satten Schaafen wohl, mir aber bange that.
162Wer aber schaft vorjezt dem bloßen Wüntschen Rath?
163Die Zeiten sind entwischt, die Stunden sind verstrichen
164Und meine Flavie zwar mit der Zeit entwichen,
165Doch nicht zur Wiederkunft. Das ganz verstimmte Rohr
166Und der gedämpfte Thon bringt lauter Klagen vor.

167Stirbt meine Flavie, so klagen meine Flöthen,
168Der Schlag, der sie entrückt, muß mich auch selber tödten.
169Der Rosen Scharlach färbt die rothen Wangen bleich,
170Die Lilgen fallen hin, die Steine werden weich,
171Narcißus selber stirbt, es starret sein Gesichte,
172Das ich zuvor erhizt. Die wohlgestalte Fichte
173Zieht Kopf und Gipfel ein, der Hyacinth verdirbt,
174Da kaum ein halbes Ach! mit seiner Zunge stirbt.

175Stirbt meine Flavie, so klagen meine Flöthen,
176Der Schlag, der sie entführt, muß mich auch selber tödten.
177Welch Schröcken, welche Pein, welch ungestümer Nord
178Reißt mein Vergnügen ein, reißt meine Hofnung fort,
179Die ferner nichts mehr hoft? Der Vögel süßes Singen
180Wird meiner Flavie kein Morgenlied mehr bringen.
181Der Sonne selber graut. Die werthe Nachtigall
182Besinget meinen Schmerz, beweinet deinen Fall,
183Mit dem mein Ancker fällt. Die Lüfte werden trübe,
184Weil sie der Untergang von meiner keuschen Liebe
185Mit Wolcken überdeckt, mit Nebel überzieht
186Und in der Blüthe schon mein Wohlergehn verblüht.

187Stirbt meine Flavie, so klagen meine Flöthen,
188Der Schlag, so sie verlezt, muß mich auch selber tödten.
189Klagt, lieben Vögel, klagt, weint, Blumen, Feld und Vieh,
190Schreyt, Hirten, Berg und Thal, weil ihr der Tod zu früh
191Und mir zu langsam kommt. Mein bangsames Gewinsel
192Vermehlet sich mit euch. Wer schaft mir Kiel und Pinsel,
193Der meinen Schmerzen mahlt, der meine Sehnsucht trift,
194Die ohne den Kompaß und ohne Leitstern schift,
195Die ohne – doch was soll ein großes Wortgepränge?
196Dem Schmerzen ist mein Herz und mir die Welt zu enge.
197Ich muß, doch aber nein. Ich werde, aber was?
198Ich kan, doch wie? Ich mag, wodurch? Ich will das Graß,
199Ach wollen, wenn man muß, mit Blut und Thränen nezen,
200Mich als ein lebend Grab zu deinem Grabe sezen,
201Wo mein Gelücke schläft, wo mein Betrübnüß wacht
202Und meiner Liebsten Sarg die Erde fruchtbahr macht.
203Hier soll ein Thränenbach auf die Gebeine schwimmen,
204In deren Asche noch die zarten Funken glimmen.
205Hier soll mein Herze selbst dein bester Leichenstein,
206Die Überschrift von Blut: Hier liegt mein Leben, seyn.

207Stirbt meine Flavie, so klagen meine Flöthen,
208Der Schlag, der sie erwürgt, muß mich auch selber tödten.
209Kan, schöne Flavie, dein felsenharter Sinn
210Auch ohne seinen Freund aus diesem Leben ziehn?
211Darf, sag ich noch einmahl, dein voriges Vergnügen,
212Jezt dein Verlaßener, nicht in den Armen liegen,
213Die nun der Tod umarmt? Du weist, ich war bereit,
214Mit dir, Geliebteste, des Leibes Einigkeit
215Und der Gemüther Band in jener Welt zu suchen;
216Ich suchte diesen Tod und muß den Schluß verfluchen,
217Der mir das Leben schenckt, der mich zu Tode quält.
218Ach, daß uns nicht ein Sarg wie vor ein Sinn vermehlt!
219Kan, ohne dich zu sehn, dem Auge was gefallen,
220Da sich dein Auge schleust? Kan ohne Furcht zu lallen
221Des Mundes naße Pflicht bey deiner Baare thun,
222Was ihm zu thun gebührt? Kan noch mein Schenckel ruhn,
223Da mir dein Fuß entwischt? Die blumenvollen Wiesen,
224Die ich zuvor gelobt, die ich zuvor gepriesen,
225Sind mir jezund verhast. Der edelste Geruch
226Riecht mir nach Überdruß. Das allerbeste Buch,
227Das meiner Seelen mehr als Zuckerbrodt gewesen,
228Läst mich den Leichentext aus allen Zeilen lesen:
229Mein Wohlseyn ist mit ihr und sie mit ihm vorbey.
230Was Wunder, wenn sich mir dein todtes Conterfey
231An allen Blättern weist, die sich vom Stamme rißen
232Und also uns versagt, den Schatten zu genießen,
233So daß noch jeder Ast der Liebe Bildnüß trägt,
234Das mir das Herze so wie ihn der Wind bewegt.

235Stirbt meine Flavie, so klagen meine Flöthen,
236Der Schlag, der sie entrückt, muß mich auch selber tödten.

(Aus: Haider, Thomas. A Large Annotated Reference Corpus of New High German Poetry. In: Proceedings of the 2024 Joint International Conference on Computational Linguistics, Language Resources and Evaluation (LREC-COLING 2024), S. 677–683, Torino, Italia. ELRA and ICCL. 2024.)

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Dieses Gedicht könnte aus folgender Literaturepoche stammen:

Johann Christian Günther (1695-1723)

* 04/08/1695 in Striegau, † 03/15/1723 in Jena

männlich, geb. Günther

deutscher Lyriker

(Aus: Wikidata.org)

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