Clemens Brentano: [es ist ein Schnitter, der heißt Tod] (1810)

1Es ist ein Schnitter, der heißt Tod,
2Er mäht das Korn, wenn's Gott gebot;
3Schon wetzt er die Sense,
4Daß schneidend sie glänze,
5Bald wird er dich schneiden,
6Du mußt es nur leiden;
7Mußt in den Erntekranz hinein,
8Hüte dich schöns Blümelein!

9Was heut noch frisch und blühend steht
10Wird morgen schon hinweggemäht,
11Ihr edlen Narzissen,
12Ihr süßen Melissen,
13Ihr sehnenden Winden,
14Ihr Leid-Hyazinthen,
15Müßt in den Erntekranz hinein,
16Hüte dich schöns Blümelein!

17Viel hunderttausend ohne Zahl,
18Ihr sinket durch der Sense Stahl,
19Weh Rosen, weh Lilien,
20Weh krause Basilien!
21Selbst euch Kaiserkronen
22Wird er nicht verschonen;
23Ihr müßt zum Erntekranz hinein,
24Hüte dich schöns Blümelein!

25Du himmelfarben Ehrenpreis,
26Du Träumer, Mohn, rot, gelb und weiß,
27Aurikeln, Ranunkeln,
28Und Nelken, die funkeln,
29Und Malven und Narden
30Braucht nicht lang zu warten;
31Müßt in den Erntekranz hinein,
32Hüte dich schöns Blümelein!

33Du farbentrunkner Tulpenflor,
34Du tausendschöner Floramor,
35Ihr Blutes-Verwandten,
36Ihr Glut-Amaranthen,
37Ihr Veilchen, ihr stillen,
38Ihr frommen Kamillen,
39Müßt in den Erntekranz hinein,
40Hüte dich schöns Blümelein!

41Du stolzer, blauer Rittersporn,
42Ihr Klapperrosen in dem Korn,
43Ihr Röslein Adonis,
44Ihr Siegel Salomonis,
45Ihr blauen Cyanen,
46Braucht ihn nicht zu mahnen.
47Müßt in den Erntekranz hinein,
48Hüte dich schöns Blümelein.

49Lieb Denkeli, Vergiß mein nicht,
50Er weiß schon, was dein Name spricht,
51Dich seufzerumschwirrte
52Brautkränzende Myrte,
53Selbst euch Immortellen
54Wird alle er fällen!
55Müßt in den Erntekranz hinein,
56Hüte dich schöns Blümelein!

57Des Frühlings Schatz und Waffensaal
58Ihr Kronen, Zepter ohne Zahl,
59Ihr Schwerter und Pfeile
60Ihr Speere und Keile,
61Ihr Helme und Fahnen
62Unzähliger Ahnen,
63Müßt in den Erntekranz hinein,
64Hüte dich schöns Blümelein!

65Des Maies Brautschmuck auf der Au,
66Ihr Kränzlein reich von Perlentau,
67Ihr Herzen umschlungen,
68Ihr Flammen und Zungen,
69Ihr Händlein in Schlingen
70Von schimmernden Ringen,
71Müßt in den Erntekranz hinein,
72Hüte dich schöns Blümelein!

73Ihr samtnen Rosen-Miederlein,
74Ihr seidnen Lilien-Schleierlein,
75Ihr lockenden Glocken,
76Ihr Schräubchen und Flocken,
77Ihr Träubchen, ihr Becher,
78Ihr Häubchen, ihr Fächer,
79Müßt in den Erntekranz hinein,
80Hüte dich schöns Blümelein!

81Herz, tröste dich, schon kömmt die Zeit,
82Die von der Marter dich befreit,
83Ihr Schlangen, ihr Drachen,
84Ihr Zähne, ihr Rachen,
85Ihr Nägel, ihr Kerzen,
86Sinnbilder der Schmerzen,
87Müßt in den Erntekranz hinein,
88Hüte dich schöns Blümelein!

89O heimlich Weh halt dich bereit!
90Bald nimmt man dir dein Trostgeschmeid,
91Das duftende Sehnen
92Der Kelche voll Tränen,
93Das hoffende Ranken
94Der kranken Gedanken
95Muß in den Erntekranz hinein,
96Hüte dich schöns Blümelein!

97Ihr Bienlein ziehet aus dem Feld,
98Man bricht euch ab das Honigzelt,
99Die Bronnen der Wonnen,
100Die Augen, die Sonnen,
101Der Erdsterne Wunder,
102Sie sinken jetzt unter,
103All in den Erntekranz hinein,
104Hüte dich schöns Blümelein!

105O Stern und Blume, Geist und Kleid,
106Lieb, Leid und Zeit und Ewigkeit!
107Den Kranz helft mir winden,
108Die Garbe helft binden,
109Kein Blümlein darf fehlen,
110Jed Körnlein wird zählen
111Der Herr auf seiner Tenne rein,
112Hüte dich schöns Blümelein!

(Aus: Haider, Thomas. A Large Annotated Reference Corpus of New High German Poetry. In: Proceedings of the 2024 Joint International Conference on Computational Linguistics, Language Resources and Evaluation (LREC-COLING 2024), S. 677–683, Torino, Italia. ELRA and ICCL. 2024.)

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Dieses Gedicht könnte aus folgender Literaturepoche stammen:

Clemens Brentano (1778-1842)

* 09/08/1778 in Koblenz-Ehrenbreitstein, † 07/28/1842 in Aschaffenburg

männlich, geb. Brentano

deutscher Schriftsteller

(Aus: Wikidata.org)

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