1Es ist ein Bäumlein gestanden im Wald
2In gutem und schlechtem Wetter;
3Das hat von unten bis oben
4Nur Nadeln gehabt statt Blätter;
5Die Nadeln, die haben gestochen,
6Das Bäumlein, das hat gesprochen:
7»alle meine Kameraden
8Haben schöne Blätter an,
9Und ich habe nur Nadeln,
10Niemand rührt mich an;
11Dürft' ich wünschen, wie ich wollt',
12Wünscht' ich mir Blätter von lauter Gold.«
13Wie's Nacht ist, schläft das Bäumlein ein,
14Und früh ist's aufgewacht;
15Das hatt' es goldene Blätter fein,
16Das war eine Pracht!
17Das Bäumlein spricht: »Nun bin ich stolz;
18Goldne Blätter hat kein Baum im Holz.«
19Aber wie es Abend ward,
20Ging der Jude durch den Wald,
21Mit großem Sack und großem Bart,
22Der sieht die goldnen Blätter bald;
23Er steckt sie ein, geht eilends fort
24Und läßt das leere Bäumlein dort.
25Das Bäumlein spricht mit Grämen:
26»die goldnen Blättlein dauern mich;
27Ich muß vor den andern mich schämen,
28Sie tragen so schönes Laub an sich;
29Dürft' ich mir wünschen noch etwas,
30So wünscht' ich mir Blätter von hellem Glas.«
31Da schlief das Bäumlein wieder ein,
32Und früh ist's wieder aufgewacht;
33Da hatt' es glasene Blätter fein,
34Das war eine Pracht!
35Das Bäumlein spricht: »Nun bin ich froh;
36Kein Baum im Walde glitzert so.«
37Da kam ein großer Wirbelwind
38Mit einem argen Wetter,
39Der fährt durch alle Bäume geschwind
40Und kommt an die glasenen Blätter;
41Da lagen die Blätter von Glase
42Zerbrochen in dem Grase.
43Das Bäumlein spricht mit Trauern:
44»mein Glas liegt in dem Staub,
45Die andern Bäume dauern
46Mit ihrem grünen Laub;
47Wenn ich mir noch was wünschen soll,
48Wünsch' ich mir grüne Blätter wohl.«
49Da schlief das Bäumlein wieder ein,
50Und wieder früh ist's aufgewacht;
51Da hatt' es grüne Blätter fein,
52Das Bäumlein lacht
53Und spricht: »Nun hab' ich doch Blätter auch,
54Daß ich mich nicht zu schämen brauch'.«
55Da kommt mit vollem Euter
56Die alte Geiß gesprungen;
57Sie sucht sich Gras und Kräuter
58Für ihre Jungen;
59Sie sieht das Laub und fragt nicht viel,
60Sie frißt es ab mit Stumpf und Stiel.
61Da war das Bäumlein wieder leer,
62Es sprach nun zu sich selber:
63»ich begehre nun keine Blätter mehr,
64Weder grüner, noch roter, noch gelber!
65Hätt' ich nur meine Nadeln,
66Ich wollte sie nicht tadeln.«
67Und traurig schlief das Bäumlein ein,
68Und traurig ist es aufgewacht;
69Da besieht es sich im Sonnenschein
70Und lacht und lacht!
71Alle Bäume lachen's aus;
72Das Bäumlein macht sich aber nichts draus.
73Warum hat's Bäumlein denn gelacht,
74Und warum denn seine Kameraden?
75Es hat bekommen in einer Nacht
76Wieder alle seine Nadeln,
77Daß jedermann es sehen kann;
78Geh 'naus, sieh's selbst, doch rühr's nicht an.
79Warum denn nicht?
80Weil's sticht.