Gottfried Keller: Der Taugenichts (1845)

1Die ersten Veilchen waren schon
2Erwacht im stillen Tal,
3Das Bettelpack schlug auf den Thron
4Im Feld zum ersten Mal.
5Der Alte auf dem Rücken lag,
6Die Mutter wusch am See;
7Bestaubt und unrein schmolz im Hag
8Das letzte Häuflein Schnee.

9Der Vollmond warf den Silberschein
10Dem Bettler in die Hand,
11Bestreut' der Frau mit Edelstein
12Die Lumpen, die sie wand;
13Ein linder West blies in die Glut
14Von einem Dorngeflecht,
15Drauf kocht' in Bettelmannes Hut
16Ein sündengrauer Hecht.

17Da kam der kleine Betteljung,
18Vor Hunger schwach und matt,
19Doch glühend in Begeisterung
20Vom Streifen durch die Stadt,
21Hielt eine Hyazinth empor
22In dunkelblauer Luft;
23Die Blume war von seltnem Flor
24Und selig süß ihr Duft.

25Der Vater rief: »Wohl hast du mir
26Viel Pfennige gebracht?«
27Der Knabe rief: »O sehet hier
28Der Blume Zauberpracht!
29Ich lag am goldnen Gittertor
30Vom Morgen bis zur Nacht,
31Die Blume aus dem Wunderflor
32Zu stehlen nur bedacht!

33Seht nur, wie vornehm und wie fein,
34Wie zierlich sie gebaut!
35Ich habe starr nach ihrem Schein
36Den ganzen Tag geschaut.
37O schlaget nicht mich armen Wicht,
38Laßt euren Stecken ruhn!
39Ich will ja nichts, mich hungert nicht,
40Ich will's nicht wieder tun!

41O sehet nur, ich werde toll,
42Die Glöcklein alle an!
43Ihr Duft, so fremd und wundervoll,
44Hat mir es angetan!
45Auch alle Blumen nun im Feld
46Lieb ich von heute an;
47Die Hexe, welche neue Welt
48Hat sie mir aufgetan!« –

49»o wehe mir geschlagnem Tropf!«
50Brach nun der Alte aus;
51»mein Kind kommt mit verrücktem Kopf
52Anstatt mit Brot nach Haus!
53Du Taugenichts, du Tagedieb
54Und deiner Eltern Schmach!«
55Und rüstig langt' er Hieb auf Hieb
56Dem armen Jungen nach.

57Im Zorn fraß er den Hecht, noch eh
58Er gar gesotten war,
59Warf weit die Gräte in den See
60Und stülpt' den Filz aufs Haar.
61Die Mutter schmält' mit lindem Wort
62Den mißgeratnen Sohn,
63Der warf die Blume zitternd fort
64Und hinkte still davon.

65Es perlte seiner Tränen Fluß,
66Er legte sich ins Gras
67Und zog aus seinem wunden Fuß
68Ein Stücklein scharfes Glas.
69Der Gott der Taugenichtse rief
70Der guten Nachtigall,
71Daß sie dem Kind ein Liedlein pfiff
72Zum Schlaf mit süßem Schall.

(Aus: Haider, Thomas. A Large Annotated Reference Corpus of New High German Poetry. In: Proceedings of the 2024 Joint International Conference on Computational Linguistics, Language Resources and Evaluation (LREC-COLING 2024), S. 677–683, Torino, Italia. ELRA and ICCL. 2024.)

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Dieses Gedicht könnte aus folgender Literaturepoche stammen:
Author

Gottfried Keller (1819-1890)

* 07/19/1819 in Zürich, † 07/15/1890 in Zürich

männlich, geb. Keller

Schweizer Schriftsteller, Dichter und Maler

(Aus: Wikidata.org)

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