Gottfried Keller: Der Sturm erwacht, es dunkelt allerenden Titel entspricht 1. Vers(1854)

1Der Sturm erwacht, es dunkelt allerenden,
2Jetzt eben, hinter jenen Wolkenwänden,
3Dort muß die Sonne untergehn;
4Dort ist es abendklar und goldenhelle
5Und sind nun Lilie, Rosenhag und Quelle
6Im

7Hier aber ist ein kaltes Wehn und Brausen,
8In dunkler Luft die hohen Wälder sausen,
9Die Bäche toben durchs Gestein;
10Des Windes Peitsche fühlt die Heide streichen,
11Asketisch beugen sich die ernsten Eichen,
12Die Nacht wankt finster in das Land herein.

13Ich spähe kaum den Grund zu meinen Füßen,
14Doch hör ich rings die Regenströme gießen,
15Es weint das schwarz verhüllte Land;
16In meinem Herzen hallt die Klage wider,
17Und es ergreift mich, wirft mich jach darnieder,
18Und meine Stirne preßt sich in den Sand.

19O reiner Schmerz, der von den Höhn gewittert,
20Du heil'ges Weh, das durch die Tiefen zittert,
21Ihr schließt auch mir die Augen auf!
22Ihr habt zu mir das Zauberwort gesprochen
23Und meinen Hochmut wie ein Rohr gebrochen,
24Und ungehemmt fließt meiner Tränen Lauf!

25Du süßes Leid, hast ganz mich überwunden!
26Welch dunkle Lust, die ich noch nie empfunden,
27Ist mit der Demut angefacht!
28Wie reich bist, Mutter Erde! du zu nennen:
29Ich glaubte deine Herrlichkeit zu kennen,
30Nun schau ich erst in deiner Tiefe Schacht!

31Und leise schallen hör ich ferne Tritte,
32Es naht sich mir mit leicht beschwingtem Schritte
33Durch die geheim erhellte Nacht;
34Weiß, wie entstiegen einem Marmorgrabe,
35So wandelt her ein schöner schlanker Knabe,
36Einsamer Bergmann in dem lichten Schacht.

37Willkommen, Tod! dir will ich mich vertrauen,
38Laß mich in deine treuen Augen schauen
39Zum ersten Male fest und klar!
40Wie wenn man einen neuen Freund gefunden,
41Kaum noch von der Verlassenheit umwunden,
42So wird mein Herz der Qual und Sorge bar.

43Tief schau ich dir ins Aug, das sternenklare.
44Wie stehn dir gut die schwarzgelockten Haare,
45Wie sanft ist deine kühle Hand!
46O lege sie in meine warmen Hände,
47Dein heil'ges Antlitz zu mir nieder wende!
48Wohl mir, daß ich dies traute Wissen fand!

49Ob mir auch noch beglückte Stunden schlagen,
50Ich will dich heimlich tief im Herzen tragen,
51Und wo mich einst dein Ruf ereilt:
52Im Blütenfeld, im festlich bunten Saale,
53Auf dürft'gem Bett, im schlachterfüllten Tale,
54Ich folge dir getrost und unverweilt. –

55Die Nacht vergeht, die grauen Wolken fliegen,
56Der Tag erwacht und seine Strahlen siegen,
57Im Osten steigt der Sonnenschild empor,
58Es blitzt sein Schein auf meinen alten Wegen;
59Ein andrer aber tret ich ihm entgegen,
60Der ich die Furcht des Todes still verlor.

(Aus: Haider, Thomas. A Large Annotated Reference Corpus of New High German Poetry. In: Proceedings of the 2024 Joint International Conference on Computational Linguistics, Language Resources and Evaluation (LREC-COLING 2024), S. 677–683, Torino, Italia. ELRA and ICCL. 2024.)

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Dieses Gedicht könnte aus folgender Literaturepoche stammen:
Author

Gottfried Keller (1819-1890)

* 07/19/1819 in Zürich, † 07/15/1890 in Zürich

männlich, geb. Keller

Schweizer Schriftsteller, Dichter und Maler

(Aus: Wikidata.org)

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