Gottfried Keller: Frühlingsbotschaft (1854)

1Zum Gerichte rief der Frühling,
2Und mit Strenge zu verfahren
3Gegen ketzerisch verstockte
4Übelsinnige Verzweiflung,
5Haben Seine Heiligkeit
6Bei der Sonne Glanz geschworen.

7Und in grünem Feuer flammen
8Alle Bäume nun auf Erden;
9Jeder Baum ist eine Flamme!
10Und geschürt sind alle Gluten,
11Angefacht glühn alle Rosen,
12Während die schismatisch grauen
13Aufgelösten Nebelflocken
14Klagend durch die Lüfte flattern,
15Gleich verbrannter Ketzer Asche;
16Doch der heilig ernste Himmel
17Läßt sie ohne Spur verschwinden,
18Und er schaut ins grüne Feuer
19Mit erbarmungsloser Bläue.

20Habt ihr jetzo unter euch
21Einen schlimmen und verschraubten,
22Heuchlerischen und verstockten
23Und verbohrten Hypochonder,
24Der da zwischen Gut und Böse
25Eigensinnig schwankt und zweifelt,
26Weder warm noch kalt kann werden
27Oder zu gerechtem Argwohn
28Grund gibt, daß sein schwarzes Innres
29Wohl ein ungeheures hohles
30Aufgeblasnes Schisma berge;
31Diesen legt nun auf die Folter,
32Diesen lasset nun bekennen!
33Bindet ihn mit jungem Efeu,
34Werft ihn nieder auf die Rosen!
35Gießt ihm Wein auf seine Zunge,
36Tropfen flüssig heißen Goldes,
37Das den Mann zum Beichten zwingt,
38Glas auf Glas, bis er bekennt!

39Zeiget sich ein Hoffnungsfunke,
40Nur ein Fünklein heitern Glaubens,
41Nur ein Strahl des guten Geistes,
42O so stellet ihn zur Linken,
43Zur Belehrung und zur Beßrung!
44O so stellt ihn, wo das Herz schlägt,
45Auf der Menschheit frohe Linke,
46Auf des Frühlings große Seite!

47Sollt es sich jedoch ereignen,
48Daß das peinliche Verfahren
49Nichts enthüllte, nichts ergäbe,
50Was da nur der Rede wert,
51Das Delirium des Rausches
52Selbst nur eine dunkle Leere
53Vor den Richtern offenbarte:
54Schleunig laßt den Sünder laufen,
55Jagt ihn stracks zur schnöden Rechten,
56Wo Geheul und Zähneklappen,
57Dummheit und Verdammnis wohnen!

(Aus: Haider, Thomas. A Large Annotated Reference Corpus of New High German Poetry. In: Proceedings of the 2024 Joint International Conference on Computational Linguistics, Language Resources and Evaluation (LREC-COLING 2024), S. 677–683, Torino, Italia. ELRA and ICCL. 2024.)

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Dieses Gedicht könnte aus folgender Literaturepoche stammen:
Author

Gottfried Keller (1819-1890)

* 07/19/1819 in Zürich, † 07/15/1890 in Zürich

männlich, geb. Keller

Schweizer Schriftsteller, Dichter und Maler

(Aus: Wikidata.org)

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