Gottfried Keller: Der erste Tannenbaum, den ich gesehn Titel entspricht 1. Vers(1854)

1Der erste Tannenbaum, den ich gesehn,
2Das war ein Weihnachtsbaum im Kerzenschimmer;
3Noch seh ich lieblich glimmend vor mir stehn
4Das grüne Wunder im erhellten Zimmer.

5Da war ich täglich mit dem frühsten wach,
6Den Zweigen gläubig ihren Schmuck zu rauben;
7Doch als die letzte süße Frucht ich brach,
8Ging es zugleich an meinen Wunderglauben.

9Dann aber, als im Lenz zum ersten Mal
10In einen Nadelwald ich mich verirrte,
11Mich durch die hohen stillen Säulen stahl,
12Bis sich der Hain zu jungem Schlag entwirrte:

13O Freudigkeit! wie ich da ungesehn
14In einem Forst von Weihnachtsbäumchen spielte,
15Dicht um mein Haar ihr zartes Wipfelwehn,
16Das überragend mir den Scheitel kühlte.

17Ein kleiner Riese in dem kleinen Tann,
18Sah ich vergnügt, wo Weihnachtsbäume sprießen;
19Ich packte keck ein winzig Tännlein an
20Und bog es mächtig ringend mir zu Füßen.

21Und über mir war nichts als blauer Raum;
22Doch als ich mich dicht an die Erde schmiegte,
23Sah unten ich durch dünner Stämmchen Saum,
24Wie Land und See im Silberduft sich wiegte.

25Wie ich so lag, da rauscht' und stob's herbei,
26Daß mir der Lufthauch durch die Locken sauste,
27Und aus der Höh schoß senkrecht her der Weih,
28Daß seiner Schwingen Schlag im Ohr mir brauste.

29Als schwebend er nah ob dem Haupt mir stand,
30Funkelt' sein Aug gleich dunklen Edelsteinen;
31Zuäußerst an der Flügel dünnem Rand
32Sah ich die Sonne durch die Kiele scheinen.

33Auf meinem Angesicht sein Schatten ruht'
34Und ließ die glühen Wangen mir erkalten –
35Ob welchem Inderfürst von heißem Blut
36Ward solch ein Sonnenschirm emporgehalten?

37Wie ich so lag, erschaut ich plötzlich nah,
38Wie eine Eidechs mit neugier'gem Blicke
39Vom nächsten Zweig ins Aug mir niedersah,
40Wie in die Flut ein Kind auf schwanker Brücke.

41Nie hab ich mehr solch guten Blick gesehn
42Und so lebendig ruhig, fein und glühend;
43Hellgrün war sie, ich sah den Odem gehn
44In zarter Brust, blaß wie ein Röschen blühend.

45Ob sie mein blaues Auge niederzog?
46Sie ließ vom Zweig sich auf die Stirn mir nieder,
47Schritt abwärts, bis sie um den Hals mir bog,
48Ein fein Geschmeide, ruhend, ihre Glieder.

49Ich hielt mich reglos, und mit lindem Druck
50Fühlt ich den leisen Puls am Halse schlagen;
51Das war der einzige und schönste Schmuck,
52Den ich in meinem Leben je getragen!

53Damals war ich ein kleiner Pantheist
54Und ruhte selig in den jungen Bäumen;
55Doch nimmer ahnte mir zu jener Frist,
56Daß in den Stämmchen solche Bretter keimen!

(Aus: Haider, Thomas. A Large Annotated Reference Corpus of New High German Poetry. In: Proceedings of the 2024 Joint International Conference on Computational Linguistics, Language Resources and Evaluation (LREC-COLING 2024), S. 677–683, Torino, Italia. ELRA and ICCL. 2024.)

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Dieses Gedicht könnte aus folgender Literaturepoche stammen:
Author

Gottfried Keller (1819-1890)

* 07/19/1819 in Zürich, † 07/15/1890 in Zürich

männlich, geb. Keller

Schweizer Schriftsteller, Dichter und Maler

(Aus: Wikidata.org)

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