Johann Wolfgang Goethe: An Werther (1824)

1Noch einmal wagst du, vielbeweinter Schatten,
2Hervor dich an das Tageslicht,
3Begegnest mir auf neubeblümten Matten,
4Und meinen Anblick scheust du nicht.
5Es ist, als ob du lebtest in der Frühe,
6Wo uns der Tau auf
7Und nach des Tages unwillkommner Mühe
8Der Scheidesonne letzter Strahl entzückt;
9Zum Bleiben ich, zum Scheiden du erkoren,
10Gingst du voran – und hast nicht viel verloren.

11Des Menschen Leben scheint ein herrlich Los:
12Der Tag wie lieblich, so die Nacht wie groß!
13Und wir, gepflanzt in Paradieses Wonne,
14Genießen kaum der hocherlauchten Sonne,
15Da kämpft sogleich verworrene Bestrebung
16Bald mit uns selbst und bald mit der Umgebung;
17Keins wird vom andern wünschenswert ergänzt,
18Von außen düstert's, wenn es innen glänzt,
19Ein glänzend Äußres deckt mein trüber Blick,
20Da steht es nah – und man verkennt das Glück.

21Nun glauben wir's zu kennen! Mit Gewalt
22Ergreift uns Liebreiz weiblicher Gestalt:
23Der Jüngling, froh wie in der Kindheit Flor,
24Im Frühling tritt als Frühling selbst hervor,
25Entzückt, erstaunt, wer dies ihm angetan?
26Er schaut umher, die Welt gehört ihm an.
27Ins Weite zieht ihn unbefangne Hast,
28Nichts engt ihn ein, nicht Mauer, nicht Palast;
29Wie Vögelschar an Wäldergipfeln streift,
30So schwebt auch er, der um die Liebste schweift,
31Er sucht vom Äther, den er gern verläßt,
32Den treuen Blick, und dieser hält ihn fest.

33Doch erst zu früh und dann zu spät gewarnt,
34Fühlt er den Flug gehemmt, fühlt sich umgarnt,
35Das Wiedersehn ist froh, das Scheiden schwer,
36Das Wieder-Wiedersehn beglückt noch mehr,
37Und Jahre sind im Augenblick ersetzt;
38Doch tückisch harrt das Lebewohl zuletzt.

39Du lächelst, Freund, gefühlvoll, wie sich ziemt:
40Ein gräßlich Scheiden machte dich berühmt;
41Wir feierten dein kläglich Mißgeschick,
42Du ließest uns zu Wohl und Weh zurück;
43Dann zog uns wieder ungewisse Bahn
44Der Leidenschaften labyrinthisch an;
45Und wir, verschlungen wiederholter Not,
46Dem Scheiden endlich – Scheiden ist der Tod!
47Wie klingt es rührend, wenn der Dichter singt,
48Den Tod zu meiden, den das Scheiden bringt!
49Verstrickt in solche Qualen, halbverschuldet,
50Geb ihm ein Gott zu sagen, was er duldet.

(Aus: Haider, Thomas. A Large Annotated Reference Corpus of New High German Poetry. In: Proceedings of the 2024 Joint International Conference on Computational Linguistics, Language Resources and Evaluation (LREC-COLING 2024), S. 677–683, Torino, Italia. ELRA and ICCL. 2024.)

Bitte prüfe den Text zunächst selbst auf Auffälligkeiten und nutze erst dann die Funktionen!

Wähle rechts unter „Einstellungen“ aus, welcher Aspekt untersucht werden soll. Unter dem Text findest du eine Erklärung zu dem ausgewählten Aspekt.

Dieses Gedicht könnte aus folgender Literaturepoche stammen:
Author

Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832)

* 08/28/1749 in Frankfurt am Main, † 03/22/1832 in Weimar

männlich, geb. Goethe

natürliche Todesursache - Herzinfarkt

deutscher Dichter, Dramatiker, Naturforscher und Politiker (1749–1832)

(Aus: Wikidata.org)

Bitte beachte unsere Hinweise zur möglichen Fehleranfälligkeit!

Gedichtanalysen zu diesem Gedicht