1Wagt ihr, also bereitet, die letzte Stufe zu steigen
2Dieses Gipfels, so reicht mir die Hand und öffnet den freien
3Blick ins weite Feld der Natur. Sie spendet die reichen
4Lebensgaben umher, die Göttin, aber empfindet
5Keine Sorge wie sterbliche Fraun um ihrer Gebornen
6Sichere Nahrung; ihr ziemet es nicht: denn zwiefach bestimmte
7Sie das höchste Gesetz, beschränkte jegliches Leben,
8Gab ihm gemeßnes Bedürfnis, und ungemessene Gaben,
9Leicht zu finden, streute sie aus, und ruhig begünstigt
10Sie das muntre Bemühn der vielfach bedürftigen Kinder;
11Unerzogen schwärmen sie fort nach ihrer Bestimmung.
12Zweck sein selbst ist jegliches Tier, vollkommen entspringt es
13Aus dem Schoß der Natur und zeugt vollkommene Kinder.
14Alle Glieder bilden sich aus nach ew'gen Gesetzen,
15Und die seltenste Form bewahrt im geheimen das Urbild.
16So ist jeglicher Mund geschickt, die Speise zu fassen,
17Welche dem Körper gebührt, es sei nun schwächlich und zahnlos
18Oder mächtig der Kiefer gezahnt, in jeglichem Falle
19Fördert ein schicklich Organ den übrigen Gliedern die Nahrung.
20Auch bewegt sich jeglicher Fuß, der lange, der kurze,
21Ganz harmonisch zum Sinne des Tiers und seinem Bedürfnis.
22So ist jedem der Kinder die volle, reine Gesundheit
23Von der Mutter bestimmt: denn alle lebendigen Glieder
24Widersprechen sich nie und wirken alle zum Leben.
25Also bestimmt die Gestalt die Lebensweise des Tieres,
26Und die Weise zu leben, sie wirkt auf alle Gestalten
27Mächtig zurück. So zeiget sich fest die geordnete Bildung,
28Welche zum Wechsel sich neigt durch äußerlich wirkende Wesen.
29Doch im Innern befindet die Kraft der edlern Geschöpfe
30Sich im heiligen Kreise lebendiger Bildung beschlossen.
31Diese Grenzen erweitert kein Gott, es ehrt die Natur sie:
32Denn nur also beschränkt war je das Vollkommene möglich.
33Doch im Inneren scheint ein Geist gewaltig zu ringen,
34Wie er durchbräche den Kreis, Willkür zu schaffen den Formen
35Wie dem Wollen; doch was er beginnt, beginnt er vergebens.
36Denn zwar drängt er sich vor zu diesen Gliedern, zu jenen,
37Stattet mächtig sie aus, jedoch schon darben dagegen
38Andere Glieder, die Last des Übergewichtes vernichtet
39Alle Schöne der Form und alle reine Bewegung.
40Siehst du also dem einen Geschöpf besonderen Vorzug
41Irgend gegönnt, so frage nur gleich, wo leidet es etwa
42Mangel anderswo, und suche mit forschendem Geiste,
43Finden wirst du sogleich zu aller Bildung den Schlüssel
44Denn so hat kein Tier, dem sämtliche Zähne den obern
45Kiefer umzäunen, ein Horn auf seiner Stirne getragen,
46Und daher ist den Löwen gehörnt der ewigen Mutter
47Ganz unmöglich zu bilden, und böte sie alle Gewalt auf;
48Denn sie hat nicht Masse genug, die Reihen der Zähne
49Völlig zu pflanzen und auch Geweih und Hörner zu treiben.
50Dieser schöne Begriff von Macht und Schranken, von Willkür
51Und Gesetz, von Freiheit und Maß, von beweglicher Ordnung,
52Vorzug und Mangel erfreue dich hoch; die heilige Muse
53Bringt harmonisch ihn dir, mit sanftem Zwange belehrend.
54Keinen höhern Begriff erringt der sittliche Denker,
55Keinen der tätige Mann, der dichtende Künstler; der Herrscher,
56Der verdient, es zu sein, erfreut nur durch ihn sich der Krone.
57Freue dich, höchstes Geschöpf der Natur, du fühlest dich fähig,
58Ihr den höchsten Gedanken, zu dem sie schaffend sich aufschwang,
59Nachzudenken. Hier stehe nun still und wende die Blicke
60Rückwärts, prüfe, vergleiche, und nimm vom Munde der Muse,
61Daß du schauest, nicht schwärmst, die liebliche volle Gewißheit.