Johann Wolfgang Goethe: Poetische Gedanken (1764)

1Welch ungewöhnliches Getümmel!
2Ein Jauchzen tönet durch die Himmel.
3Ein großes Heer zieht herrlich fort.
4Gefolgt von tausend Millionen
5Steigt Gottes Sohn von Seinen Thronen
6Und eilt an jenen finstern Ort.
7Er eilt, umgeben von Gewittern;
8Als Richter kommt Er und als Held.
9Er geht, und alle Sterne zittern.
10Die Sonne bebt. Es bebt die Welt.

11Ich seh Ihn auf dem Siegeswagen,
12Von Feuerrädern fortgetragen,
13Den, der für uns am Kreuze starb.
14Er zeigt den Sieg auch jenen Fernen,
15Weit von der Welt, weit von den Sternen,
16Den Sieg, den Er für uns erwarb.
17Er kommt, die Hölle zu zerstören,
18Die schon Sein Tod darnieder schlug;
19Sie soll von Ihm ihr Urteil hören.
20Hört! Jetzt erfüllet sich der Fluch.

21Die Hölle sieht den Sieger kommen,
22Sie fühlt sich ihre Macht genommen.
23Sie bebt und scheut Sein Angesicht.
24Sie kennet Seines Donners Schrecken.
25Sie sucht umsonst sich zu verstecken.
26Sie sucht zu fliehn und kann es nicht.
27Sie eilt vergebens, sich zu retten
28Und sich dem Richter zu entziehn,
29Der Zorn des Herrn, gleich ehrnen Ketten,
30Hält ihren Fuß, sie kann nicht fliehn.

31Hier lieget der zertretne Drache,
32Er liegt und fühlt des Höchsten Rache,
33Er fühlet sie und knirscht vor Wut.
34Er fühlt der ganzen Hölle Qualen,
35Er ächzt und heult bei tausend Malen:
36»vernichte mich, o heiße Glut!«
37Da liegt er in dem Flammenmeere,
38Ihn foltern ewig Angst und Pein.
39Er flucht, daß ihn die Qual verzehre,
40Und hört, die Qual soll ewig sein.

41Auch hier sind jene große Scharen,
42Die mit ihm gleichen Lasters waren,
43Doch lange nicht so bös als er.
44Hier liegt die ungezählte Menge,
45In schwarzem, schröcklichen Gedränge,
46Im Feuerorkan um ihn her.
47Er sieht, wie sie den Richter scheuen,
48Er sieht, wie sie der Sturm zerfrißt.
49Er sieht's und kann sich doch nicht freuen,
50Weil seine Pein noch größer ist.

51Des Menschen Sohn steigt im Triumphe
52Hinab zum schwarzen Höllensumpfe
53Und zeigt dort Seine Herrlichkeit.
54Die Hölle kann den Glanz nicht tragen,
55Seit ihren ersten Schöpfungstagen
56Beherrschte sie die Dunkelheit.
57Sie lag entfernt von allem Lichte,
58Erfüllt von Qual im Chaos hier.
59Den Strahl von Seinem Angesichte
60Verwandte Gott auf stets von ihr.

61Jetzt siehet sie in ihren Grenzen
62Die Herrlichkeit des Sohnes glänzen,
63Die fürchterliche Majestät.
64Sie sieht mit Donnern Ihn umgeben,
65Sie sieht, daß alle Felsen beben,
66Wie Gott im Grimme vor ihr steht.
67Sie sieht's, Er kommet, sie zu richten,
68Sie fühlt den Schmerzen, der sie plagt;
69Sie wünscht umsonst, sich zu vernichten.
70Auch dieser Trost bleibt ihr versagt.

71Nun denkt sie an ihr altes Glücke,
72Voll Pein an jene Zeit zurücke,
73Da dieser Glanz ihr Lust gebar;
74Da noch ihr Herz im Stand der Tugend,
75Ihr froher Geist in frischer Jugend
76Und stets voll neuer Wonne war.
77Sie denkt mit Wut an ihr Verbrechen,
78Wie sie die Menschen kühn betrog.
79Sie dachte sich an Gott zu rächen,
80Jetzt fühlt sie, was es nach sich zog.

81Gott ward ein Mensch. Er kam auf Erden.
82»auch dieser soll mein Opfer werden«,
83Sprach Satanas und freute sich.
84Er suchte Christum zu verderben,
85Der Welten Schöpfer sollte sterben.
86Doch weh dir, Satan, ewiglich!
87Du glaubtest, Ihn zu überwinden,
88Du freutest dich bei Seiner Not.
89Doch siegreich kommt Er, dich zu binden.
90Wo ist dein Stachel hin, o Tod?

91Sprich, Hölle, sprich, wo ist dein Siegen?
92Sieh nur, wie deine Mächte liegen.
93Erkennst du bald des Höchsten Macht?
94Sieh, Satan, sieh dein Reich zerstöret!
95Von tausendfacher Qual beschweret,
96Liegst du in ewig finstrer Nacht.
97Da liegst du wie vom Blitz getroffen.
98Kein Schein vom Glück erfreuet dich.
99Es ist umsonst. Du darfst nichts hoffen,
100Messias starb allein für mich!

101Es steigt ein Heulen durch die Lüfte,
102Schnell wanken jene schwarze Grüfte,
103Als Christus sich der Hölle zeigt.
104Sie knirscht aus Wut; doch ihren Wüten
105Kann unser großer Held gebieten;
106Er winkt, die ganze Hölle schweigt.
107Der Donner rollt vor Seiner Stimme.
108Die hohe Siegesfahne weht.
109Selbst Engel zittern vor dem Grimme,
110Wann Christus zum Gerichte geht.

111Jetzt spricht Er; Donner ist Sein Sprechen,
112Er spricht, und alle Felsen brechen.
113Sein Atem ist dem Feuer gleich.
114So spricht Er: »Zittert, ihr Verruchte!
115Der, der in Eden euch verfluchte,
116Kommt und zerstöret euer Reich.
117Seht auf! Ihr waret Meine Kinder,
118Ihr habt euch wider Mich empört.
119Ihr fielt und wurdet freche Sünder,
120Ihr habt den Lohn, der euch gehört.

121Ihr wurdet Meine größten Feinde,
122Verführtet Meine liebsten Freunde.
123Die Menschen fielen so wie ihr.
124Ihr wolltet ewig sie verderben,
125Des Todes sollten alle sterben,
126Doch, heulet! Ich erwarb sie Mir.
127Für sie bin Ich herabgegangen,
128Ich litt, Ich bat, Ich starb für sie.
129Ihr sollt nicht euren Zweck erlangen.
130Wer an Mich glaubt, der stirbet nie.

131Hier lieget ihr in ew'gen Ketten,
132Nichts kann euch aus dem Pfuhl erretten,
133Nicht Reue, nicht Verwegenheit.
134Da liegt, krümmt euch in Schwefelflammen!
135Ihr eiltet, euch selbst zu verdammen,
136Da liegt und klagt in Ewigkeit!
137Auch ihr, so Ich Mir auserkoren,
138Auch ihr verscherztet Meine Huld;
139Auch ihr seid ewiglich verloren.
140Ihr murret? Gebt Mir keine Schuld.

141Ihr solltet ewig mit Mir leben,
142Euch war hierzu Mein Wort gegeben,
143Ihr sündigtet und folgtet nicht.
144Ihr lebtet in dem Sündenschlafe.
145Nun quält euch die gerechte Strafe,
146Ihr fühlt Mein schreckliches Gericht.«
147So sprach Er, und ein furchtbar Wetter
148Geht von Ihm aus. Die Blitze glühn.
149Der Donner faßt die Übertreter
150Und stürzt sie in den Abgrund hin.

151Der Gott-Mensch schließt der Höllen Pforten,
152Er schwingt Sich aus den dunklen Orten
153In Seine Herrlichkeit zurück.
154Er sitzet an des Vaters Seiten,
155Er will noch immer für uns streiten.
156Er will's! O Freunde! Welches Glück?
157Der Engel feierliche Chöre,
158Die jauchzen vor dem großen Gott,
159Daß es die ganze Schöpfung höre:

(Aus: Haider, Thomas. A Large Annotated Reference Corpus of New High German Poetry. In: Proceedings of the 2024 Joint International Conference on Computational Linguistics, Language Resources and Evaluation (LREC-COLING 2024), S. 677–683, Torino, Italia. ELRA and ICCL. 2024.)

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Author

Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832)

* 08/28/1749 in Frankfurt am Main, † 03/22/1832 in Weimar

männlich, geb. Goethe

natürliche Todesursache - Herzinfarkt

deutscher Dichter, Dramatiker, Naturforscher und Politiker (1749–1832)

(Aus: Wikidata.org)

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