Johann Wolfgang Goethe: Auf Miedings Tod (1782)

1Welch ein Getümmel füllt Thaliens Haus?
2Welch ein geschäftig Volk eilt ein und aus?
3Von hohlen Brettern tönt des Hammers Schlag,
4Der Sonntag feiert nicht, die Nacht wird Tag.
5Was die Erfindung still und zart ersann,
6Beschäftigt laut den rohen Zimmermann.
7Ich sehe Hauenschild gedankenvoll;
8Ist's Türk, ist's Heide, den er kleiden soll?
9Und Schumann froh, als wär er schon bezahlt,
10Weil er einmal mit ganzen Farben malt.
11Ich sehe Thielens leichtbewegten Schritt,
12Der lust'ger wird, je mehr er euch verschnitt.
13Der Jude Elkan läuft mit manchem Rest,
14Und diese Gärung deutet auf ein Fest.

15Allein, wie viele hab ich hererzählt,
16Und nenn ihn nicht, den Mann, der nie gefehlt,
17Der sinnreich schnell, mit schmerzbeladner Brust,
18Den Lattenbau zu fügen wohl gewußt,
19Das Brettgerüst, das, nicht von ihm belebt,
20Wie ein Skelett an toten Drähten schwebt.

21Wo ist er? sagt! – Ihm war die Kunst so lieb,
22Daß Kolik nicht, nicht Husten ihn vertrieb.
23»er liegt so krank, so schlimm es nie noch war!«
24Ach, Freunde! Weh! Ich fühle die Gefahr;
25Hält Krankheit ihn zurück, so ist es Not,
26Er ist nicht krank, nein, Kinder, er ist tot!

27»wie? Mieding tot?« erschallt bis unters Dach
28Das hohle Haus, vom Echo kehrt ein Ach!
29Die Arbeit stockt, die Hand wird jedem schwer,
30Der Leim wird kalt, die Farbe fließt nicht mehr;
31Ein jeder steht betäubt an seinem Ort,
32Und nur der Mittwoch treibt die Arbeit fort.

33Ja, Mieding tot! O scharret sein Gebein
34Nicht undankbar wie manchen andern ein!
35Laßt seinen Sarg eröffnet, tretet her,
36Klagt jedem Bürger, der gelebt wie er,
37Und laßt am Rand des Grabes, wo wir stehn,
38Die Schmerzen in Betrachtung übergehn.

39O Weimar! dir fiel ein besonder Los:
40Wie Bethlehem in Juda, klein und groß!
41Bald wegen Geist und Witz beruft dich weit
42Europens Mund, bald wegen Albernheit.
43Der stille Weise schaut und sieht geschwind,
44Wie zwei Extreme nah verschwistert sind.
45Eröffne du, die du besondre Lust
46Am Guten hast, der Rührung deine Brust!

47Und du, o Muse, rufe weit und laut
48Den Namen aus, der heut uns still erbaut!
49Wie manchen, wert und unwert, hielt mit Glück
50Die sanfte Hand von ew'ger Nacht zurück;
51O laß auch Miedings Namen nicht vergehn!
52Laß ihn stets neu am Horizonte stehn!

53Nenn ihn der Welt, die kriegrisch oder fein
54Dem Schicksal dient und glaubt, ihr Herr zu sein,
55Dem Rad der Zeit vergebens widersteht,
56Verwirrt, beschäftigt und betäubt sich dreht;
57Wo jeder, mit sich selbst genug geplagt,
58So selten nach dem nächsten Nachbar fragt,
59Doch gern im Geist nach fernen Zonen eilt
60Und Glück und Übel mit dem Fremden teilt.
61Verkünde laut und sag es überall:
62Wo

63Du, Staatsmann, tritt herbei! Hier liegt der Mann,
64Der, so wie du, ein schwer Geschäft begann;
65Mit Lust zum Werke mehr als zum Gewinn
66Schob er ein leicht Gerüst mit leichtem Sinn,
67Den Wunderbau, der äußerlich entzückt,
68Indes der Zaubrer sich im Winkel drückt.
69Er war's, der säumend manchen Tag verlor,
70Sosehr ihn Autor und Akteur beschwor,
71Und dann zuletzt, wenn es zum Treffen ging,
72Des Stückes Glück an schwache Fäden hing.

73Wie oft trat nicht die Herrschaft schon herein!
74Es ward gepocht, die Symphonie fiel ein,
75Daß er noch kletterte, die Stangen trug,
76Die Seile zog und manchen Nagel schlug.
77Oft glückt's ihm; kühn betrog er die Gefahr,
78Doch auch ein Bock macht' ihm kein graues Haar.

79Wer preist genug des Mannes kluge Hand,
80Wenn er aus Draht elast'sche Federn wand,
81Vielfält'ge Pappen auf die Lättchen schlug,
82Die Rolle fügte, die den Wagen trug,
83Von Zindel, Blech, gefärbt Papier und Glas,
84Dem Ausgang lächelnd, rings umgeben saß;

85So, treu dem unermüdlichen Beruf,
86War er's, der Held und Schäfer leicht erschuf.
87Was alles zarte, schöne Seelen rührt,
88Ward treu von ihm nachahmend ausgeführt:
89Des Rasens Grün, des Wassers Silberfall,
90Der Vögel Sang, des Donners lauter Knall,
91Der Laube Schatten und des Mondes Licht –
92Ja selbst ein Ungeheur erschreckt' ihn nicht.

93Wie die Natur manch widerwärt'ge Kraft
94Verbindend zwingt und streitend Körper schafft:
95So zwang er jedes Handwerk, jeden Fleiß;
96Des Dichters Welt entstand auf sein Geheiß;
97Und so verdient, gewährt die Muse nur
98Den Namen ihm:

99Wer faßt nach ihm voll Kühnheit und Verstand
100Die vielen Zügel mit der
101Hier, wo sich jeder seines Weges treibt,
102Wo ein Faktotum unentbehrlich bleibt,
103Wo selbst der Dichter, heimlich voll Verdruß,
104Im Fall der Not die Lichter putzen muß.

105O sorget nicht! Gar viele regt sein Tod!
106Sein Witz ist nicht zu erben, doch sein Brot;
107Und ungleich ihm denkt mancher Ehrenmann:
108Verdien ich's nicht, wenn ich's nur essen kann.

109Was stutzt ihr? Seht den schlecht verzierten Sarg,
110Auch das Gefolg scheint euch gering und karg.
111»wie!« ruft ihr, »wer so künstlich und so fein,
112So wirksam war, muß reich gestorben sein!
113Warum versagt man ihm den Trauerglanz,
114Den äußern Anstand letzter Ehre ganz?«
115Nicht so geschwind! Das Glück macht alles gleich,
116Den Faulen und den Tät'gen – arm und reich.
117Zum Gütersammeln war er nicht der Mann;
118Der Tag verzehrte, was der Tag gewann.
119Bedauert ihn, der, schaffend bis ans Grab,
120Was künstlich war und nicht, was Vorteil gab,
121In Hoffnung täglich weniger erwarb,
122Vertröstet lebte und vertröstet starb.

123Nun laßt die Glocken tönen, und zuletzt
124Werd er mit lauter Trauer beigesetzt!
125Wer ist's, der ihm ein Lob zu Grabe bringt,
126Eh noch die Erde rollt, das Chor verklingt?

127Ihr Schwestern, die ihr, bald auf Thespis' Karrn,
128Geschleppt von Eseln und umschrien von Narrn,
129Vor Hunger kaum, vor Schande nie bewahrt,
130Von Dorf zu Dorf, euch feilzubieten, fahrt,
131Bald wieder, durch der Menschen Gunst beglückt,
132In Herrlichkeit der Welt die Welt entzückt;
133Die Mädchen eurer Art sind selten karg,
134Kommt, gebt die schönsten Kränze diesem Sarg!
135Vereinet hier teilnehmend euer Leid,
136Zahlt, was ihr ihm, was ihr uns schuldig seid!
137Als euern Tempel grause Glut verheert,
138Wart ihr von uns drum weniger geehrt?
139Wieviel Altäre stiegen vor euch auf!
140Wie manches Rauchwerk brachte man euch drauf!
141An wieviel Plätzen lag, vor euch gebückt,
142Ein schwer befriedigt Publikum entzückt!
143In engen Hütten und im reichen Saal,
144Auf Höhen Ettersburgs, in Tiefurts Tal,
145Im leichten Zelt, auf Teppichen der Pracht
146Und unter dem Gewölb der hohen Nacht
147Erschient ihr, die ihr vielgestaltet seid,
148Im Reitrock bald und bald im Galakleid.
149Auch das Gefolg, das um euch sich ergießt,
150Dem der Geschmack die Türen ekel schließt,
151Das leichte, tolle, scheckige Geschlecht,
152Es kam zu Hauf, und immer kam es recht.

153An weiße Wand bringt dort der Zauberstab
154Ein Schattenvolk aus mytholog'schem Grab.
155Im Possenspiel regt sich die alte Zeit,
156Gutherzig, doch mit Ungezogenheit.
157Was Gallier und Brite sich erdacht,
158Ward wohlverdeutscht hier Deutschen vorgebracht,
159Und oftmals liehen Wärme, Leben, Glanz
160Dem armen Dialog – Gesang und Tanz.
161Des Karnevals zerstreuter Flitterwelt
162Ward sinnreich Spiel und Handlung zugesellt.
163Dramatisch selbst erschienen hergesandt
164Drei Könige aus fernem Morgenland,
165Und sittsam bracht auf reinlichem Altar
166Dianens Priesterin ihr Opfer dar.
167Nun ehrt uns auch in dieser Trauerzeit!
168Gebt uns ein Zeichen, denn ihr seid nicht weit!

169Ihr Freunde, Platz! Weicht einen kleinen Schritt!
170Seht, wer da kommt und festlich näher tritt!
171Sie ist es selbst – die Gute fehlt uns nie –
172Wir sind erhört, die Musen senden sie.
173Ihr kennt sie wohl! sie ist's, die stets gefällt:
174Als eine Blume zeigt sie sich der Welt;
175Zum Muster wuchs das schöne Bild empor,
176Vollendet nun, sie ist's und stellt es vor.
177Es gönnten ihr die Musen jede Gunst,
178Und die Natur erschuf in ihr die Kunst.
179So häuft sie willig jeden Reiz auf sich,
180Und selbst dein Name ziert,
181Sie tritt herbei. Seht sie gefällig stehn!
182Nur absichtslos, doch wie mit Absicht schön.
183Und hocherstaunt seht ihr in ihr vereint
184Ein Ideal, das Künstlern nur erscheint.

185Anständig führt die leis erhobne Hand
186Den schönsten Kranz, umknüpft von Trauerband.
187Der Rose frohes, volles Angesicht,
188Das treue Veilchen, der Narzisse Licht,
189Vielfält'ger Nelken, eitler Tulpen Pracht,
190Von Mädchenhand geschickt hervorgebracht,
191Durchschlungen von der Myrte sanfter Zier,
192Vereint die Kunst zum Trauerschmucke hier,
193Und durch den schwarzen, leichtgeknüpften Flor
194Sticht eine Lorbeerspitze still hervor.

195Es schweigt das Volk. Mit Augen voller Glanz
196Wirft sie ins Grab den wohlverdienten Kranz.
197Sie öffnet ihren Mund, und lieblich fließt
198Der weiche Ton, der sich ums Herz ergießt.
199Sie spricht: »Den Dank für das, was du getan,
200Geduldet, nimm, du Abgeschiedner, an!
201Der Gute wie der Böse müht sich viel,
202Und beide bleiben weit von ihrem Ziel.
203Dir gab ein Gott in holder, steter Kraft
204Zu deiner Kunst die ew'ge Leidenschaft.
205Sie war's, die dich zur bösen Zeit erhielt,
206Mit der du, krank, als wie ein Kind gespielt,
207Die auf den blassen Mund ein Lächeln rief,
208In deren Arm dein müdes Haupt entschlief!
209Ein jeder, dem Natur ein Gleiches gab,
210Besuche pilgernd dein bescheiden Grab!
211Fest steh dein Sarg in wohlgegönnter Ruh;
212Mit lockrer Erde deckt ihn leise zu,
213Und sanfter als des Lebens liege dann
214Auf dir des Grabes Bürde, guter Mann!«

(Aus: Haider, Thomas. A Large Annotated Reference Corpus of New High German Poetry. In: Proceedings of the 2024 Joint International Conference on Computational Linguistics, Language Resources and Evaluation (LREC-COLING 2024), S. 677–683, Torino, Italia. ELRA and ICCL. 2024.)

Bitte prüfe den Text zunächst selbst auf Auffälligkeiten und nutze erst dann die Funktionen!

Wähle rechts unter „Einstellungen“ aus, welcher Aspekt untersucht werden soll. Unter dem Text findest du eine Erklärung zu dem ausgewählten Aspekt.

Dieses Gedicht könnte aus folgender Literaturepoche stammen:
Author

Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832)

* 08/28/1749 in Frankfurt am Main, † 03/22/1832 in Weimar

männlich, geb. Goethe

natürliche Todesursache - Herzinfarkt

deutscher Dichter, Dramatiker, Naturforscher und Politiker (1749–1832)

(Aus: Wikidata.org)

Bitte beachte unsere Hinweise zur möglichen Fehleranfälligkeit!

Gedichtanalysen zu diesem Gedicht