Johann Wolfgang Goethe: Das Tagebuch (1810)

1Wir hören's oft und glauben's wohl am Ende:
2Das Menschenherz sei ewig unergründlich,
3Und wie man auch sich hin und wider wende,
4So sei der Christe wie der Heide sündlich.
5Das Beste bleibt, wir geben uns die Hände
6Und nehmen's mit der Lehre nicht empfindlich;
7Denn zeigt sich auch ein Dämon, uns versuchend,
8So waltet was, gerettet ist die Tugend.

9Von meiner Trauten lange Zeit entfernet,
10Wie's öfters geht, nach irdischem Gewinne,
11Und was ich auch gewannen und gelernet,
12So hatt ich doch nur immer
13Und wie zu Nacht der Himmel erst sich sternet,
14Erinnrung uns umleuchtet ferner Minne:
15So ward im Federzug des Tags Ereignis
16Mit süßen Worten

17Ich eilte nun zurück. Zerbrochen sollte
18Mein Wagen mich noch eine Nacht verspäten;
19Schon dacht ich mich, wie ich zu Hause rollte,
20Allein da war Geduld und Werk vonnöten.
21Und wie ich auch mit Schmied und Wagner tollte,
22Sie hämmerten, verschmähten, viel zu reden.
23Ein jedes Handwerk hat nun seine Schnurren.
24Was blieb mir nun? Zu weilen und zu murren.

25So stand ich nun. Der Stern des nächsten Schildes
26Berief mich hin, die Wohnung schien erträglich.
27Ein Mädchen kam, des seltensten Gebildes,
28Das Licht erleuchtend. Mir ward gleich behäglich.
29Hausflur und Treppe sah ich als ein Mildes,
30Die Zimmerchen erfreuten mich unsäglich.
31Den sündigen Menschen, der im Freien schwebet –
32Die Schönheit spinnt, sie ist's, die ihn umwebet.

33Nun setzt ich mich zu meiner Tasch und Briefen
34Und meines Tagebuchs Genauigkeiten,
35Um so wie sonst, wenn alle Menschen schliefen,
36Mir und der Trauten Freude zu bereiten;
37Doch weiß ich nicht, die Tintenworte liefen
38Nicht so wie sonst in alle Kleinigkeiten:
39Das Mädchen kam, des Abendessens Bürde
40Verteilte sie gewandt mit Gruß und Würde.

41Sie geht und kommt; ich spreche, sie erwidert;
42Mit jedem Wort erscheint sie mir geschmückter.
43Und wie sie leicht mir nun das Huhn zergliedert,
44Bewegend Hand und Arm, geschickt, geschickter –
45Was auch das tolle Zeug in uns befiedert –
46Genug, ich bin verworrner, bin verrückter,
47Den Stuhl umwerfend, spring ich auf und fasse
48Das schöne Kind; sie lispelt: »Lasse, lasse!

49Die Muhme drunten lauscht, ein alter Drache,
50Sie zählt bedächtig des Geschäfts Minute;
51Sie denkt sich unten, was ich oben mache,
52Bei jedem Zögern schwenkt sie frisch die Rute.
53Doch schließe deine Türe nicht und wache,
54So kommt die Mitternacht uns wohl zugute.«
55Rasch meinem Arm entwindet sie die Glieder
56Und eilet fort und kommt nur dienend wieder;

57Doch blickend auch! So daß aus jedem Blicke
58Sich himmlisches Versprechen mir entfaltet.
59Den stillen Seufzer drängt sie nicht zurücke,
60Der ihren Busen herrlicher gestaltet.
61Ich sehe, daß am Ohr, um Hals und G'nicke
62Der flüchtigen Röte Liebesblüte waltet,
63Und da sie nichts zu leisten weiter findet,
64Geht sie und zögert, sieht sich um, verschwindet.

65Der Mitternacht gehören Haus und Straßen,
66Mir ist ein weites Lager aufgebreitet,
67Wovon den kleinsten Teil mir anzumaßen
68Die Liebe rät, die alles wohl bereitet;
69Ich zaudre noch; die Kerzen auszublasen,
70Nun hör ich sie, wie leise sie auch gleitet,
71Mit gierigem Blick die Hochgestalt umschweif ich,
72Sie senkt sich her, die Wohlgestalt ergreif ich.

73Sie macht sich los: »Vergönne, daß ich rede,
74Damit ich dir nicht völlig fremd gehöre.
75Der Schein ist wider mich; sonst war ich blöde,
76Stets gegen Männer setzt ich mich zur Wehre.
77Mich nennt die Stadt, mich nennt die Gegend spröde;
78Nun aber weiß ich, wie das Herz sich kehre:
79Du bist mein Sieger, laß dich's nicht verdrießen,
80Ich sah, ich liebte, schwur, dich zu genießen.

81Du hast mich rein, und wenn ich's besser wüßte,
82So gäb ich's dir; ich tue, was ich sage.«
83So schließt sie mich an ihre süßen Brüste,
84Als ob ihr nur an meiner Brust behage.
85Und wie ich Mund und Aug und Stirne küßte,
86So war ich doch in wunderbarer Lage:
87Denn der so hitzig sonst den Meister spielet,
88Weicht schülerhaft zurück und abgekühlet.

89Ihr scheint ein süßes Wort, ein Kuß zu g'nügen,
90Als wär es alles, was ihr Herz begehrte.
91Wie keusch sie mir mit liebevollem Fügen
92Des süßen Körpers Fülleform gewährte!
93Entzückt und froh in allen ihren Zügen
94Und ruhig dann, als wenn sie nichts entbehrte.
95So ruht ich auch, gefällig sie beschauend,
96Noch auf den Meister hoffend und vertrauend.

97Doch als ich länger mein Geschick bedachte,
98Von tausend Flüchen mir die Seele kochte,
99Mich selbst verwünschend, grinsend mich belachte,
100Nichts besser ward, wie ich auch zaudern mochte,
101Da lag sie schlafend, schöner als sie wachte;
102Die Lichter dämmerten mit langem Dochte.
103Der Tagesarbeit, jugendlicher Mühe
104Gesellt sich gern der Schlaf und nie zu frühe.

105So lag sie himmlisch an bequemer Stelle,
106Als wenn das Lager ihr allein gehörte,
107Und an die Wand gedrückt, gequetscht zur Hölle,
108Ohnmächtig jener, dem sie nichts verwehrte.
109Vom Schlangenbisse fällt zunächst der Quelle
110Ein Wandrer so, den schon der Durst verzehrte.
111Sie atmet lieblich holdem Traum entgegen;
112Er hält den Atem, sie nicht aufzuregen.

113Gefaßt bei dem, was ihm noch nie begegnet,
114Spricht er zu sich: So mußt du doch erfahren,
115Warum der Bräutigam sich kreuzt und segnet,
116Vor Nestelknüpfen scheu sich zu bewahren.
117Weit lieber da, wo's Hellebarden regnet,
118Als hier im Schimpf! So war es nicht vor Jahren,
119Als deine Herrin dir zum ersten Male
120Vors Auge trat im prachterhellten Saale.

121Da quoll dein Herz, da quollen deine Sinnen,
122So daß der ganze Mensch entzückt sich regte.
123Zum raschen Tanze trugst du sie von hinnen,
124Die kaum der Arm und schon der Busen hegte,
125Als wolltest du dir selbst sie abgewinnen;
126Vervielfacht war, was sich für sie bewegte:
127Verstand und Witz und alle Lebensgeister,
128Und rascher als die andern jener Meister.

129So immerfort wuchs Neigung und Begierde,
130Brautleute wurden wir im frühen Jahre,
131Sie selbst des Maien schönste Blum und Zierde;
132Wie wuchs die Kraft zur Lust im jungen Paare!
133Und als ich endlich sie zur Kirche führte,
134Gesteh ich's nur, vor Priester und Altare,
135Vor deinem Jammerkreuz, blutrünst'ger Christe,
136Verzeih mir's Gott, es regte sich der Iste.

137Und ihr, der Brautnacht reiche Bettgehänge,
138Ihr Pfühle, die ihr euch so breit erstrecktet,
139Ihr Teppiche, die Lieb und Lustgedränge
140Mit euren seidnen Fittichen bedecktet!
141Ihr Käfigvögel, die durch Zwitschersänge
142Zu neuer Lust und nie zu früh uns wecktet!
143Ihr kanntet uns, von euerm Schutz umfriedet,
144Teilnehmend sie, mich immer unermüdet.

145Und wie wir oft sodann im Raub genossen
146Nach Buhlenart des Ehstands heilige Rechte,
147Von reifer Saat umwogt, vom Rohr umschlossen,
148An manchem Unort, wo ich's mich erfrechte,
149Wir waren augenblicklich, unverdrossen
150Und wiederholt bedient vom braven Knechte!
151Verfluchter Knecht, wie unerwecklich liegst du!
152Und deinen Herrn ums schönste Glück betriegst du.

153Doch Meister Iste hat nun seine Grillen
154Und läßt sich nicht befehlen noch verachten,
155Auf einmal ist er da, und ganz im stillen
156Erhebt er sich zu allen seinen Prachten;
157So steht es nun dem Wandrer ganz zu Willen,
158Nicht lechzend mehr am Quell zu übernachten.
159Er neigt sich hin, er will die Schläferin küssen,
160Allein er stockt, er fühlt sich weggerissen.

161Wer hat zur Kraft ihn wieder aufgestählet,
162Als jenes Bild, das ihm auf ewig teuer,
163Mit dem er sich in Jugendlust vermählet?
164Dort leuchtet her ein frisch erquicklich Feuer,
165Und wie er erst in Ohnmacht sich gequälet,
166So wird nun hier dem Starken nicht geheuer;
167Er schaudert weg, vorsichtig, leise, leise
168Entzieht er sich dem holden Zauberkreise,

169Sitzt, schreibt: »Ich nahte mich der heimischen Pforte,
170Entfernen wollten mich die letzten Stunden,
171Da hab ich nun am sonderbarsten Orte
172Mein treues Herz aufs neue dir verbunden.
173Zum Schlusse findest du geheime Worte:
174Dies Büchlein soll dir manches Gute zeigen,
175Das Beste nur muß ich zuletzt verschweigen.«

176Da kräht der Hahn. Das Mädchen schnell entwindet
177Der Decke sich und wirft sich rasch ins Mieder.
178Und da sie sich so seltsam wiederfindet,
179So stutzt sie, blickt und schlägt die Augen nieder;
180Und da sie ihm zum letztenmal verschwindet,
181Im Auge bleiben ihm die schönen Glieder.
182Das Posthorn tönt, er wirft sich in den Wagen
183Und läßt getrost sich zu der Liebsten tragen

184Und weil zuletzt bei jeder Dichtungsweise
185Moralien uns ernstlich fördern sollen,
186So will auch ich in so beliebtem Gleise
187Euch gern bekennen, was die Verse wollen:
188Wir stolpern wohl auf unsrer Lebensreise,
189Und doch vermögen in der Welt, der tollen,
190Zwei Hebel viel aufs irdische Getriebe:
191Sehr viel die Pflicht, unendlich mehr die Liebe!

(Aus: Haider, Thomas. A Large Annotated Reference Corpus of New High German Poetry. In: Proceedings of the 2024 Joint International Conference on Computational Linguistics, Language Resources and Evaluation (LREC-COLING 2024), S. 677–683, Torino, Italia. ELRA and ICCL. 2024.)

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Author

Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832)

* 08/28/1749 in Frankfurt am Main, † 03/22/1832 in Weimar

männlich, geb. Goethe

natürliche Todesursache - Herzinfarkt

deutscher Dichter, Dramatiker, Naturforscher und Politiker (1749–1832)

(Aus: Wikidata.org)

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