Rainer Maria Rilke: Die fünfte Elegie (1922)

1Wer aber
2Flüchtigern noch als wir selbst, die dringend von früh an
3wringt ein
4niemals zufriedener Wille? Sondern er wringt sie,
5biegt sie, schlingt sie und schwingt sie,
6wirft sie und fängt sie zurück; wie aus geölter,
7glatterer Luft kommen sie nieder
8auf dem verzehrten, von ihrem ewigen
9Aufsprung dünneren Teppich, diesem verlorenen
10Teppich im Weltall.
11Aufgelegt wie ein Pflaster, als hätte der Vorstadt-
12Himmel der Erde dort wehe getan.
13Und kaum dort,
14aufrecht, da und gezeigt: des Dastehns
15großer Anfangsbuchstab..., schon auch, die stärksten
16Männer, rollt sie wieder, zum Scherz, der immer
17kommende Griff, wie August der Starke bei Tisch
18einen zinnenen Teller.

19Ach und um diese
20Mitte, die Rose des Zuschauns:
21blüht und entblättert. Um diesen
22Stampfer, den Stempel, den von dem eignen
23blühenden Staub getroffnen, zur Scheinfrucht
24wieder der Unlust befruchteten, ihrer
25niemals bewußten, – glänzend mit dünnster
26Oberfläche leicht scheinlächelnden Unlust.

27Da: der welke, faltige Stemmer,
28der alte, der nur noch trommelt,
29eingegangen in seiner gewaltigen Haut, als hätte sie früher
30zwei Männer enthalten, und einer
31läge nun schon auf dem Kirchhof, und er überlebte den andern,
32taub und manchmal ein wenig
33wirr, in der verwitweten Haut.

34Aber der junge, der Mann, als wär er der Sohn eines Nackens
35und einer Nonne: prall und strammig erfüllt
36mit Muskeln und Einfalt.

37Oh ihr,
38die ein Leid, das noch klein war,
39einst als Spielzeug bekam, in einer seiner
40langen Genesungen....

41Du, der mit dem Aufschlag,
42wie nur Früchte ihn kennen, unreif,
43täglich hundertmal abfällt vom Baum der gemeinsam
44erbauten Bewegung (der, rascher als Wasser, in wenig
45Minuten Lenz, Sommer und Herbst hat) –
46abfällt und anprallt ans Grab:
47manchmal, in halber Pause, will dir ein liebes
48Antlitz entstehn hinüber zu deiner selten
49zärtlichen Mutter; doch an deinen Körper verliert sich,
50der es flächig verbraucht, das schüchtern
51kaum versuchte Gesicht... Und wieder
52klatscht der Mann in die Hand zu dem Ansprung, und eh dir
53jemals ein Schmerz deutlicher wird in der Nähe des immer
54trabenden Herzens, kommt das Brennen der Fußsohln
55ihm, seinem Ursprung, zuvor mit ein paar dir
56rasch in die Augen gejagten leiblichen Tränen.
57Und dennoch, blindlings,
58das Lächeln.....

59Engel! o nimms, pflücks, das kleinblütige Heilkraut.
60Schaff eine Vase, verwahrs! Stells unter jene, uns
61offenen Freuden; in lieblicher Urne
62rühms mit blumiger schwungiger Aufschrift:

63Du dann, Liebliche,

64du, von den reizendsten Freuden
65stumm Übersprungne. Vielleicht sind
66deine Fransen glücklich für dich –,
67oder über den jungen
68prallen Brüsten die grüne metallene Seide
69fühlt sich unendlich verwöhnt und entbehrt nichts.
70Du,
71immerfort anders auf alle des Gleichgewichts schwankende Waagen
72hingelegte Marktfrucht des Gleichmuts,
73öffentlich unter den Schultern.

74Wo, o
75wo sie noch lange nicht
76abfieln, wie sich bespringende, nicht recht
77paarige Tiere; –
78wo die Gewichte noch schwer sind;
79wo noch von ihren vergeblich
80wirbelnden Stäben die Teller
81torkeln.....

82Und plötzlich in diesem mühsamen Nirgends, plötzlich
83die unsägliche Stelle, wo sich das reine Zuwenig
84unbegreiflich verwandelt –, umspringt
85in jenes leere Zuviel.
86Wo die vielstellige Rechnung
87zahlenlos aufgeht.

88Plätze, o Platz in Paris, unendlicher Schauplatz,
89wo die Modistin,
90die ruhlosen Wege der Erde, endlose Bänder,
91schlingt und windet und neue aus ihnen
92Schleifen erfindet, Rüschen, Blumen, Kokarden, künstliche Früchte –, alle
93unwahr gefärbt, – für die billigen
94Winterhüte des Schicksals.
95. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

96Engel!: Es wäre ein Platz, den wir nicht wissen, und dorten,
97auf unsäglichem Teppich, zeigten die Liebenden, die's hier
98bis zum Können nie bringen, ihre kühnen
99hohen Figuren des Herzschwungs,
100ihre Türme aus Lust, ihre
101längst, wo Boden nie war, nur an einander
102lehnenden Leitern, bebend, – und
103vor den Zuschauern rings, unzähligen lautlosen Toten:

104Würfen die dann ihre letzten, immer ersparten,

105immer verborgenen, die wir nicht kennen, ewig
106gültigen Münzen des Glücks vor das endlich
107wahrhaft lächelnde Paar auf gestilltem
108Teppich?

(Aus: Haider, Thomas. A Large Annotated Reference Corpus of New High German Poetry. In: Proceedings of the 2024 Joint International Conference on Computational Linguistics, Language Resources and Evaluation (LREC-COLING 2024), S. 677–683, Torino, Italia. ELRA and ICCL. 2024.)

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Dieses Gedicht könnte aus folgender Literaturepoche stammen:
Author

Rainer Maria Rilke (1875-1926)

* 12/04/1875 in Prag, † 12/29/1926 in Montreux

männlich, geb. Rilke

natürliche Todesursache - Leukämie

österreichischer Lyriker, Erzähler, Übersetzer und Romancier (1875–1926)

(Aus: Wikidata.org)

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