Adelbert von Chamisso: Vergeltung (1809)

1Wie der Mai du anzuschauen,
2Wonnereiche, Zarte, Feine,
3Mit des Haares Gold, der blauen
4Klaren Augen Himmelsreine;
5Mit den Lippen von Korallen,
6Mit der Gabe zu gefallen,
7Holdes, süßes Mägdelein, –
8Mußt, unseligste von allen,
9Du des Henkers Tochter sein?!

10Und der Vater kam nach Hause
11Düstern, fast verstörten Mutes;
12Ihn verfolgt das Bild, das grause,
13Des am Tag vergoßnen Blutes: –
14Haben, die den Stab gebrochen,
15Nach den Rechten auch gesprochen,
16Schreit um Rache doch dies Blut;
17Jene Rechte sind bestochen,
18Sind der Unterdrücker Gut.

19Ja, die Mächt'gen, die Beglückten,
20Ja, die Götter dieser Erden!
21Ihnen muß der Unterdrückten
22Sühnend Blut geopfert werden;
23Rein von Blut sind ihre Hände,
24Das Gesetz verlangt die Spende,
25Wie der Richter selber spricht;
26Ich, Verworfner, bring's zu Ende,
27Ob das Herz darob mir bricht.

28Recht und Freiheit! rufen wollte
29Dieser noch, da scholl der dumpfe
30Trommelschlag, – ein Wink, – es rollte
31Schnell sein Haupt getrennt vom Rumpfe.
32Morgen werden Mütter weinen,
33Morgen folgen zwei dem einen,
34Und gebrandmarkt werden drei! –
35Möchte noch der Tag mir scheinen,
36Wo Vergeltung Losung sei! –

37Wühlt in seines Herzens Wunden
38So der Alte trüb und trüber,
39Und die nächtlich bangen Stunden
40Ziehen träg an ihm vorüber;
41Ewig scheint die Nacht zu dauern;
42Wahngebilde sieht er lauern,
43Wo sein Auge starrend ruht;
44Sieht an den geweißten Mauern
45Rieseln der Gerechten Blut.

46Und er hofft die düstern Sorgen
47Sich beschäft'gend abzustreifen,
48Im voraus zum andern Morgen
49Will er Beil und Messer schleifen,
50Will am Herde sich bemühen
51Noch die Stempel auszuglühen,
52Die er morgen brauchen soll; –
53Blutrot sieht er Funken sprühen
54Um das Eisen schreckenvoll.

55Blut und Blut! Die grausen Bilder
56Stürmen auf ihn ein und hadern,
57Es empöret wild und wilder
58Sich das Blut in seinen Adern;
59Frieden hofft er nur zu finden,
60Sich der Angst nur zu entwinden
61In der reinen Unschuld Näh: –
62Dieser Spuk, er wird verschwinden,
63Wann ich meine Tochter seh.

64Nahen will ich ihr, mich halten
65Ihr zu Häupten, nur sie schauen,
66Zum Gebet die Hände falten
67Und auf meinen Gott vertrauen. –
68Wie er sagte, also tat er,
69Sorglich, leisen Schrittes naht' er,
70Nicht zu stören ihre Ruh; –
71Was, verzweiflungsvoller Vater,
72Zuckst dein scharfes Messer du?

73Ach du siehest, weh dir Armen!
74Siehst den Wüstling, siehst den Grafen,
75Siehst der Tochter in den Armen
76Den Verführer eingeschlafen.
77Im Begriff, den Stoß zu führen,
78Wirst du andres noch erküren,
79Ja! du wirfst das Messer weit, –
80Zeit war's, jene Glut zu schüren,
81Und der Stempel liegt bereit. –

82Wirst nicht, Schandbub, mit dem Leben
83Nur die Freveltat mir büßen;
84Werde meinen Fluch dir geben,
85Und du wirst dich krümmen müssen,
86Trage du auf deiner bleichen
87Stirne dieses Kainszeichen,
88Eingebrannt von meiner Hand!
89Magst so ungefährdet schleichen,
90Mann der Sünde, durch das Land.

91Zischend brennt sich ein das Eisen,
92Schreiend fährt er aus dem Schlafe,
93Und erblickt den grimmen Greisen
94Mit dem Werkzeug seiner Strafe. –
95»zeuch von hinnen! dein Erwachen
96Möge den noch glaubend machen,
97Der Vergeltung nicht geglaubt;
98Gott ist mächtig in dem Schwachen«:
99Spricht's und wiegt sein graues Haupt.

(Aus: Haider, Thomas. A Large Annotated Reference Corpus of New High German Poetry. In: Proceedings of the 2024 Joint International Conference on Computational Linguistics, Language Resources and Evaluation (LREC-COLING 2024), S. 677–683, Torino, Italia. ELRA and ICCL. 2024.)

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Dieses Gedicht könnte aus folgender Literaturepoche stammen:

Adelbert von Chamisso (1781-1838)

* 01/30/1781 in Châlons-en-Champagne, † 08/21/1838 in Berlin

männlich, geb. Chamisso

- Bronchialkarzinom

deutscher Naturforscher und Dichter (1781–1838)

(Aus: Wikidata.org)

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