Adelbert von Chamisso: Abba Glosk Leczeka (1809)

1Es schallen gut im Liede der Purpur und das Schwert,
2Doch hüllt sich oft in Lumpen, der auch ist preisenswert;
3Ich führ euch einen Juden und Bettler heute vor,
4Den Abba Glosk Leczeka, verschließt ihm nicht das Ohr.

5Er harrte vor der Türe von Moses Mendelssohn
6Gelassen und geduldig vor Sonnenaufgang schon;
7Wie hoch in Himmelsräumen zu steigen sie begann,
8Trat erst aus seiner Wohnung der weitberühmte Mann.

9Ihn grüßt der fremde Bettler in polnisch jüd'scher Tracht,
10Sein Gruß den Schriftgelehrten dem andern kenntlich macht,
11Er aber geht vorüber: »An Zeit es mir gebricht!« –
12Der Fremde weicht zurücke, doch von der Schwelle nicht.

13Und Mittag ward's und Abend, und als zur Nacht es ging,
14Die Stadt in ihren Straßen die Schatten schon empfing,
15Kam heim zu seinem Herde der weitberühmte Mann,
16Da grüßt' ihn noch der Bettler, wie morgens er getan.

17Er sucht in seiner Börse nach einem Silberstück,
18Ihm hält der fremde Bettler die milde Hand zurück:
19»das nicht von dir begehr ich, nur dein lebend'ges Wort,
20Mich führt der Durst nach Wahrheit allein an diesen Ort.« –

21»du scheinst der kleinen Gabe bedürftig mir zu sein.« –
22»du hältst mich für unwürdig der größern!« – »Tritt herein!
23Suchst redlich du die Wahrheit, die vielen so verhaßt,
24So sei dem Gleichgesinnten ein liebgehegter Gast.«

25Beim wogenden Gespräche, beim häuslich trauten Mahl,
26Beim Becher edlen Weines, dem flüss'gen Sonnenstrahl,
27Erblüht dem fremden Bettler die Rede wunderbar,
28Ein Gläub'ger und ein Denker, wie nie noch einer war.

29Er hat des Wortes Fessel gesprengt mit Geistes-Kraft,
30Er hängt am Guten, Wahren so recht mit Leidenschaft,
31Er sprühet Lichtgedanken so machtvoll vor sich hin,
32So eignen Reiz verleiht ihm sein heitrer froher Sinn.

33Und ob des seltnen Mannes verwundert und erfreut,
34Der seine Neigung fesselt und Ehrfurcht ihm gebeut,
35Fragt Mendelssohn ihn traulich: »Wie haben Schul und Welt
36So seltsam dich erzogen und deinen Geist erhellt?«

37Drauf er: »Du lenkst vom Lichte die Blicke niederwärts,
38Zu forschen nach dem Menschen und schauen ihm ins Herz;
39Ich zeige mich dem Freunde, und meinen Weg und Ziel,
40Und melde, wie die Binde mir von den Augen fiel.

41Mein Forschen und mein Trachten, das bin ich selbst und ganz;
42Minuten so wie diese sind meines Lebens Glanz;
43Ich trage sechzig Jahre noch frisch und wohlgemut,
44Noch schmilzt den Schnee des Alters des Herzens innre Glut.

45Zu Glosk in unsern Schulen bekam ich Unterricht;
46Der Talmud und der Talmud! sie wußten andres nicht;
47Verhangen und verfinstert das göttliche Gebot,
48Das leis aus tiefstem Herzen sich doch mir mahnend bot.

49Wie hab ich oft mit Schmerzen die stumme Mitternacht
50Auf ihren toten Büchern verstört herangewacht;
51Wie hätt ich fromm und willig den Lehrern nur geglaubt,
52Und wiegte doch verneinend mein sorgenschweres Haupt.

53Und nun ich sollte lehren, so wie ich selbst belehrt,
54Da hat sich mir die Rede gar wundersam verkehrt;
55Da schalt aus mir die Stimme auf Satzungen und Trug,
56Dem Blitze zu vergleichen, der aus den Wolken schlug.

57Sie haben sich entsetzet, sie haben mich fortan
58Bedrohet und gefährdet und in den Bann getan;
59Ich hatte mich gefunden, ich war, der ich nun bin,
60Ich folgte meiner Sendung mit leichtem, freud'gem Sinn.

61So wallt ich, in der Heimat ein Fremder, nun hinfort
62Verstoßen, fluchbeladen, unstät von Ort zu Ort,
63Und forschte, sprach und lehrte, und trachtete doch nur,
64Das arme Volk zu leiten auf eine beßre Spur.

65Und dreizehn Bücher hatt ich verfaßt mit allem Fleiß,
66Die Bücher, sie enthielten das Beste, was ich weiß;
67Zu Wilna, oh! da waren fast grausam allzusehr
68Die Ältesten des Volkes, wie nirgends anders mehr.

69Sie haben meine Bücher zerrissen insgesamt,
70Und haben zu den Flammen sie ungehört verdammt;
71Sie schichteten den Holzstoß beim alten Apfelbaum
72Vor ihrer Synagoge im innern Hofesraum.

73Da standen in dem Rauche die Alten blöd und blind,
74Den schlug auf sie hernieder ein mächt'ger Wirbelwind,
75Gereinigt schwang die Flamme sich zu dem höhern Licht;
76Den Geist, das Licht, die Sonne vernichten sie doch nicht.

77Ich selbst ich sollte sterben, kaum heimlich war der Rat;
78Doch fand sich ein Rabbiner, der um mein Leben bat,
79Ich wurde bloß gegeißelt, und als man frei mich gab,
80So griff ich heitern Sinnes zu meinem Wanderstab.

81Der freud'ge, rüst'ge Waller zieht über Berg und Tal,
82Ihm scheinet, ihn erwärmet der lieben Sonne Strahl,
83Der Schoß der grünen Erde empfängt mit rechter Lust
84Sein müdes Haupt am Abend, er ruht an Mutterbrust.

85Wer je von seinen Brüdern den Hunger selber litt,
86Teilt ihm vom letzten Brote gern einen Brocken mit,
87Er zieht durch Land und Städte und rühmt sich reich und frei,
88Und weiß von keiner Armut und keiner Sklaverei.

89Vor Sprach- und Stammverwandten entquillt an jedem Ort
90Aus übervollem Herzen ihm das lebend'ge Wort,
91Zu lehren und zu bessern, zu sichten sonder Scheu
92Den Glauben von dem Wahne, den Weizen von der Spreu.

93Ist Felsen auch der Boden, die Saat verstreue nur!
94Es träufelt auf den Felsen, wie auf die grüne Flur,
95Des Ew'gen milder Regen. Beharrlichkeit! Geduld!
96Du zahlest deinem Schöpfer so deines Lebens Schuld.

97Und herwärts zog mich mächtig und ahndungsvoll mein Herz,
98Von deines Namens Klange gelockt, du reines Erz;
99Du bist, den ich gesuchet, du, der vom Wahne fern
100Zerbricht die hohle Schale und sucht nach ihrem Kern.

101Das will auch ich, so reiche mir deine liebe Hand,
102Wir schaffen hier und knüpfen ein gottgefällig Band;
103Das Licht, das ist das Gute; die Finsternis, die Nacht,
104Das ist das Reich der Sünde und ist des Bösen Macht.

105Dir strömet von den Lippen ein ruhig klarer Born,
106Es leiht gewalt'ge Worte mir oft ein heil'ger Zorn;
107So laß vor unserm Volke zerreißen uns vereint
108Des Aberglaubens Schleier, bis hell der Tag ihm scheint.

109Nicht träge denn, nicht lässig; die Hand ans Werk gelegt!
110Versammle du die Jünger, es tagt, die Stunde schlägt!
111Wir hammern an den Felsen, bis hell der Stein erklingt,
112Und an das Licht der Sprudel lebend'gen Wassers springt.«

113Darauf mit Rührung lächelnd der Wirt zu seinem Gast:
114»genügt dir nicht, du Guter, was du erduldet hast?
115Soll wiederum sich schichten ein Scheiterhaufen? kann
116Die Geißel nicht dich lehren? du lehrbegier'ger Mann!

117Du forschest nach der Wahrheit; erkenne doch die Welt,
118Die fester als am Glauben am Aberglauben hält;
119Was je gelebt im Geiste, gehört der Ewigkeit,
120Nur ruft es erst ins Leben die allgewalt'ge Zeit.

121Bleib hie und lerne schweigen, wo sprechen nicht am Ort;
122Du magst im Stillen forschen, erwägen Geist und Wort,
123Und magst das Korn der Furche der Zeiten anvertraun;
124Vielleicht wird einst dein Enkel die goldnen Saaten schaun.«

125Drauf er: »Du schweigst, du Kluger, und schweigen soll mein Mund!
126So sprich, wer soll denn reden und tun die Wahrheit kund?
127Du helles Licht des Geistes sollst leuchten freundlich mir;
128Die Hand darauf! – wir scheiden! mein Pfad, der trennt sich hier.«

129Er ging; dem Flammengeiste, dem Flammenherzen galt
130Für Feigheit jede Vorsicht, und freundlich zürnend schalt
131Ihn Mendelssohn vergebens; er ging und lehrt' und sprach,
132Bis über ihn aufs neue das Ungewitter brach.

133Die Ältesten des Volkes entrüstet, luden ihn
134Vor ihre Schranken: »Rede, was machst du in Berlin?« –
135»ich forsch in dem Gesetze, darüber sprech ich auch
136Mit andern Schriftgelehrten nach hergebrachtem Brauch.« –

137»du stehst in keinem Dienste? hast kein Gewerbe?« – »Nein!
138Ich kann und will nicht handeln, und mag nicht dienstbar sein.« –
139»und wir, nach hies'ger Ordnung, verbieten diese Stadt
140Dem ärgerlichen Neurer, der hier gelästert hat.«

141Darauf erhob sich Abba und sprach: »Hartherzigkeit,
142Du bist zur Ordnung worden, du herrschest hier zur Zeit!
143Und kennt ihr den Propheten Jeremia denn nicht,
144Der so aus meinem Munde zu euch, ihr Starren, spricht:

145›die Missetat der Tochter von Sion, unerhört!
146Verdunkelt Sodoms Sünde, die doch mein Grimm zerstört.‹
147Die Schrift und die Propheten, die les ich Tag und Nacht,
148Und hab auch andre Worte zu eigen mir gemacht!

149›du sollst dich nicht entsetzen, und sollst, du Menschenkind,
150Vor ihnen dich nicht fürchten, die mir abtrünnig sind;
151Du wohnst bei scharfen Dornen und Skorpionen dort,
152Doch sollst du dich nicht fürchten, verkündest du mein Wort.‹«

153Sie holten ihn am Abend wohl mit der Polizei,
154Ihn auf die Post zu bringen, er rief den Freund herbei,
155Der schafft' ihm einen Dienstschein, geschirmet war er so
156Vor seinen Widersachern, sie waren des nicht froh.

157Und eine Rechnung reichten zur Zahlung sie ihm dar,
158Wo Postgeld nebst der Bütteln Gebühr verzeichnet war;
159Er aber sprach und lachte: »Geduldet euch, ihr Herrn,
160Hier paßt wohl ein Geschichtchen, und ich erzähl es gern:

161Den Unsern wird zu Lemberg ein kummervolles Los,
162Die jungen Herrn, die Schüler sind ganz erbarmungslos,
163Den armen Unterdrückten mißhandeln sie und schmähn,
164Und werfen ihn mit Steinen, wo immer sie ihn sehn.

165Als einer, den sie schlugen, nah am Verscheiden war,
166Vermaß sich die Gemeinde, bedrängt von der Gefahr,
167Den Jesuiten Obern zu klagen ihre Not;
168Die haben unparteiisch erlassen ein Verbot:

169Es dürfen nicht die Schüler aus eitlem Zeitvertreib
170Die Juden so mißhandeln, daß sie an ihrem Leib
171Beschädigt werden möchten; es wird auch untersagt,
172Blutrünstig sie zu schlagen, wie eben wird geklagt.

173Ein arglos Schimpfen, Werfen, ein Stoß und solcherlei,
174Das müssen sie erdulden und steht den Schülern frei,
175Weil mancher unter diesen ist guter Eltern Kind,
176Und Juden doch am Ende nur eben Juden sind.

177Ein Jud in diesen Tagen, der her die Straße kam,
178Bemerkte, daß ein Schüler ihn recht zum Ziele nahm,
179Er bückte sich bei Zeiten, und wich dem Stein noch aus,
180Der klirrend flog ins Fenster dem nächsten Bürgerhaus.

181Die Scheibe war zerbrochen; der Bürger säumte nicht,
182Und zog, Ersatz zu fodern, den Juden vor Gericht:
183›denn hättest du gestanden dem Wurf, wie sich's gebührt,
184So wurde von dem Steine mein Fenster nicht berührt.‹

185›ihr habt den Stein geworfen, ich habe mich gebückt,
186So hat der Wurf die Scheibe des Nachbars nur zerstückt;
187Ich soll die Scheibe zahlen, das Recht, das eure, spricht's,
188Doch hat das Recht verloren, denn, seht! ich habe nichts.‹«

189Als jene sich entfernet, verblieben noch die zwei
190Im traulichen Gespräche, sie dachten laut und frei;
191Begegnen sich die Geister verwandt im Lichtrevier,
192Das ist des Lebens Freude, das ist des Lebens Zier.

193Und Abba zu dem Freunde: »Bin friedlich ja gesinnt,
194Du siehst, daß aller Orten sich Hader um mich spinnt;
195Frei muß ich denken, sprechen und atmen Gottes Luft,
196Und wer die drei mir raubet, der legt mich in die Gruft.

197Von hinnen will ich ziehen, den Wanderstab zur Hand
198Ein Land der Freiheit suchen, nach Holland, Engelland;
199Der Druck hat hier den Juden Bedrückung auch gelehrt,
200Wohl wird er Duldung üben, wo Duldung er erfährt.«

201Und Mendelssohn dagegen und schüttelte das Haupt:
202»du liebewerter Schwärmer, der noch an Duldung glaubt,
203Zeuch hin, dich bloß zu geben auch dort der Eulenbrut!
204Dein zugewognes Glücksteil, das ist dein froher Mut.« –

205»mein zugewognes Glücksteil, das ist die Liebe mein
206Zu meinem Volk; mein Glaube, zu bessern müss' es sein;
207Mein Hoffen, mitzuwirken dazu mit Gut und Blut;
208Du nennst die drei zusammen, das ist mein froher Mut.«

209Und frohen Mutes nahm er den Wanderstab zur Hand,
210Und zog wohl in die Fremde, nach Holland, Engelland;
211Den blut'gen Welterobrer verfolgt die Sage nur,
212Vom Menschenfreund und Bettler verlieret sich die Spur.

213Zurück nach manchen Jahren gleich frohen Mutes kam
214Er nach Berlin gewandert; sein rechter Arm war lahm;
215Und blind sein andres Auge, vernarbt sein Angesicht,
216Sein Herz allein, das alte, verändert war es nicht.

217So trat er freundlich lächelnd vor Moses Mendelssohn:
218»wie dort es mir ergangen, du Kluger, siehst es schon;
219Sie haben mich geschmähet, mißhandelt und verbannt,
220War ihnen Macht gegeben, sie hätten mich verbrannt.«

221Und wieder frohen Mutes, da ihn Berlin verstieß,
222Zog er nach seiner Heimat, die Haß ihm nur verhieß,
223Da wallt' er rüst'gen Schrittes, ein Fremder, fort und fort,
224Verstoßen, fluchbeladen, unstät von Ort zu Ort.

225Einst sucht' er wohl vergebens seit manchem Tag vielleicht,
226Wer ihm von seinem Brote das dürft'ge Stück gereicht;
227Der Schoß der Mutter Erde empfing zur letzten Ruh
228Sein graues Haupt, ihm fielen die müden Augen zu.

(Aus: Haider, Thomas. A Large Annotated Reference Corpus of New High German Poetry. In: Proceedings of the 2024 Joint International Conference on Computational Linguistics, Language Resources and Evaluation (LREC-COLING 2024), S. 677–683, Torino, Italia. ELRA and ICCL. 2024.)

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Dieses Gedicht könnte aus folgender Literaturepoche stammen:
Author

Adelbert von Chamisso (1781-1838)

* 01/30/1781 in Châlons-en-Champagne, † 08/21/1838 in Berlin

männlich, geb. Chamisso

- Bronchialkarzinom

deutscher Naturforscher und Dichter (1781–1838)

(Aus: Wikidata.org)

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