Adelbert von Chamisso: Die Kreuzschau (1809)

1Der Pilger, der die Höhen überstiegen,
2Sah jenseits schon das ausgespannte Tal
3In Abendglut vor seinen Füßen liegen.
4Auf duft'ges Gras, im milden Sonnenstrahl
5Streckt' er ermattet sich zur Ruhe nieder,
6Indem er seinem Schöpfer sich befahl.
7Ihm fielen zu die matten Augenlider,
8Doch seinen wachen Geist enthob ein Traum
9Der ird'schen Hülle seiner trägen Glieder.
10Der Schild der Sonne ward im Himmelsraum
11Zu Gottes Angesicht, das Firmament
12Zu seinem Kleid, das Land zu dessen Saum.
13»du wirst dem, dessen Herz dich Vater nennt,
14Nicht, Herr, im Zorn entziehen deinen Frieden,
15Wenn seine Schwächen er vor dir bekennt.
16Daß, wen ein Weib gebar, sein Kreuz hienieden
17Auch duldend tragen muß, ich weiß es lange,
18Doch sind der Menschen Last und Leid verschieden.
19Mein Kreuz ist allzu schwer; sieh ich verlange
20Die Last nur angemessen meiner Kraft;
21Ich unterliege, Herr, zu hartem Zwange.«
22Wie so er sprach zum Höchsten kinderhaft,
23Kam brausend her der Sturm und es geschah,
24Daß aufwärts er sich fühlte hingerafft.
25Und wie er Boden faßte, fand er da
26Sich einsam in der Mitte räum'ger Hallen,
27Wo ringsum sonder Zahl er Kreuze sah.
28Uns eine Stimme hört' er dröhnend hallen:
29»hier aufgespeichert ist das Leid; du hast
30Zu wählen unter diesen Kreuzen allen.«
31Versuchend ging er da, unschlüssig fast,
32Von einem Kreuz zum anderen umher,
33Sich auszuprüfen die bequemre Last.
34Dies Kreuz war ihm zu groß und das zu schwer,
35So schwer und groß war jenes andre nicht,
36Doch scharf von Kanten drückt' es desto mehr.
37Das dort, das warf wie Gold ein gleißend Licht,
38Das lockt' ihn, unversucht es nicht zu lassen,
39Dem goldnen Glanz entsprach auch das Gewicht.
40Er mochte dieses heben, jenes fassen,
41Zu keinem neigte noch sich seine Wahl,
42Es wollte keines, keines für ihn passen.
43Durchmustert hatt er schon die ganze Zahl –
44Verlorne Müh! Vergebens war's geschehen!
45Durchmustern mußt er sie zum andern Mal.
46Und nun gewahrt' er, früher übersehen,
47Ein Kreuz, das leidlicher ihm schien zu sein,
48Und bei dem einen blieb er endlich stehen.
49Ein schlichtes Marterholz, nicht leicht, allein
50Ihm paßlich und gerecht nach Kraft und Maß:
51»herr«, rief er, »so du willst, dies Kreuz sei mein!«
52Und wie er's prüfend mit den Augen maß –
53Es war dasselbe, das er sonst getragen,
54Wogegen er zu murren sich vermaß.
55Er lud es auf und trug's nun sonder Klagen.

(Aus: Haider, Thomas. A Large Annotated Reference Corpus of New High German Poetry. In: Proceedings of the 2024 Joint International Conference on Computational Linguistics, Language Resources and Evaluation (LREC-COLING 2024), S. 677–683, Torino, Italia. ELRA and ICCL. 2024.)

Bitte prüfe den Text zunächst selbst auf Auffälligkeiten und nutze erst dann die Funktionen!

Wähle rechts unter „Einstellungen“ aus, welcher Aspekt untersucht werden soll. Unter dem Text findest du eine Erklärung zu dem ausgewählten Aspekt.

Dieses Gedicht könnte aus folgender Literaturepoche stammen:
Author

Adelbert von Chamisso (1781-1838)

* 01/30/1781 in Châlons-en-Champagne, † 08/21/1838 in Berlin

männlich, geb. Chamisso

- Bronchialkarzinom

deutscher Naturforscher und Dichter (1781–1838)

(Aus: Wikidata.org)

Bitte beachte unsere Hinweise zur möglichen Fehleranfälligkeit!

Gedichtanalysen zu diesem Gedicht