Joseph von Eichendorff: Die Zauberin im Walde (1808)

1»schon vor vielen, vielen Jahren
2Saß ich drüben an dem Ufer,
3Sah manch Schiff vorüberfahren
4Weit hinein ins Waldesdunkel.

5Denn ein Vogel jeden Frühling
6An dem grünen Waldessaume
7Sang mit wunderbarem Schalle,
8Wie ein Waldhorn klang's im Traume.

9Und gar seltsam hohe Blumen
10Standen an dem Rand der Schlünde,
11Sprach der Strom so dunkle Worte,
12's war, als ob ich sie verstünde.

13Und wie ich so sinnend atme
14Stromeskühl und Waldesdüfte,
15Und ein wundersam Gelüsten
16Mich hinabzog nach den Klüften:

17Sah ich auf kristallnem Nachen,
18Tief im Herzensgrund erschrocken,
19Eine wunderschöne Fraue,
20Ganz umwallt von goldnen Locken.

21Und von ihrem Hals behende
22Tät sie lösen eine Kette,
23Reicht' mit ihren weißen Händen
24Mir die allerschönste Perle.

25Nur ein Wort von fremdem Klange
26Sprach sie da mit rotem Munde,
27Doch im Herzen ewig stehen
28Wird des Worts geheime Kunde.

29Seitdem saß ich wie gebannt dort,
30Und wenn neu der Lenz erwachte,
31Immer von dem Halsgeschmeide
32Eine Perle sie mir brachte.

33Ich barg all' im Waldesgrunde,
34Und aus jeder Perl der Fraue
35Sproßte eine Blum zur Stunde,
36Wie ihr Auge anzuschauen.

37Und so bin ich aufgewachsen,
38Tät der Blumen treulich warten,
39Schlummert oft und träumte golden
40In dem schwülen Waldesgarten.

41Fortgespült ist nun der Garten
42Und die Blumen all' verschwunden,
43Und die Gegend, wo sie standen,
44Hab ich nimmermehr gefunden.

45In der Fern liegt jetzt mein Leben,
46Breitend sich wie junge Träume,
47Schimmert stets so seltsam lockend
48Durch die alten, dunklen Bäume.

49Jetzt erst weiß ich, was der Vogel
50Ewig ruft so bange, bange,
51Unbekannt zieht ew'ge Treue
52Mich hinunter zu dem Sange.

53Wie die Wälder kühle rauschen,
54Zwischendurch das alte Rufen,
55Wo bin ich so lang gewesen? –
56O ich muß hinab zur Ruhe!«

57Und es stieg vom Schloß hinunter
58Schnell der süße Florimunde,
59Weit hinab und immer weiter
60Zu dem dunkelgrünen Grunde.

61Hört' die Ströme stärker rauschen,
62Sah in Nacht des Vaters Burge
63Stillerleuchtet ferne stehen,
64Alles Leben weit versunken.

65Und der Vater schaut' vom Berge,
66Schaut' zum dunklen Grunde immer,
67Regte sich der Wald so grausig,
68Doch den Sohn erblickt' er nimmer.

69Und es kam der Winter balde,
70Und viel Lenze kehrten wieder,
71Doch der Vogel in dem Walde
72Sang nie mehr die Wunderlieder.

73Und das Waldhorn war verklungen
74Und die Zauberin verschwunden,
75Wollte keinen andern haben
76Nach dem süßen Florimunde. –

(Aus: Haider, Thomas. A Large Annotated Reference Corpus of New High German Poetry. In: Proceedings of the 2024 Joint International Conference on Computational Linguistics, Language Resources and Evaluation (LREC-COLING 2024), S. 677–683, Torino, Italia. ELRA and ICCL. 2024.)

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Dieses Gedicht könnte aus folgender Literaturepoche stammen:
Author

Joseph von Eichendorff (1788-1857)

* 03/10/1788 in Ratibor, Oberschlesien, † 11/26/1857 in Neisse, Oberschlesien

männlich, geb. Eichendorff

natürliche Todesursache - Lungenentzündung

bedeutender Lyriker und Schriftsteller der deutschen Romantik

(Aus: Wikidata.org)

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