1O Heimatliebe, Heimatlust,
2Du Born der Sehnsucht unergründet,
3Du frommer Strahl, in jeder Brust
4Vom Himmel selber angezündet,
5Gefühl, das wie der Tod so stark
6Uns eingesenkt ward bis ins Mark,
7Das uns das Tal, da wir geboren,
8Mit tausendfarb'gem Schimmer schmückt,
9Und wär's im Steppensand verloren,
10Und wär's von ew'gem Schnee gedrückt:
11Wohl keinem ward zum tiefsten Grunde
12Von deiner Allgewalt die Kunde,
13Der pilgernd nie aus seinem Ohr
14Der Muttersprache Laut verlor
15Und nie, an fremder Tür gesessen,
16Der Fremde bittres Brot gegessen.
17Doch wer vom eignen Herd verbannt
18Irrt in ungastlich fernem Land,
19Der Wandrer, der auf wüstem Meer
20Nur Luft und Wasser sieht umher,
21Der Pilger, der mit kecken Sinnen
22Durch Wälder, über Bergeszinnen
23Auf irrem Pfad zu weit geschweift.
24Der ist's, den deine Macht ergreift;
25Doch wandelt ihm sich im Gemüte
26Zum scharfen Dorn die Rosenblüte,
27Du ziehst, o milde Heimatlust,
28Als Heimweh durch die kranke Brust.
29Dann bist du's, die im Frühlingswalde,
30Im Veilchenhag, umspielt vom West,
31Das arme Kind der eis'gen Halde
32Nach seinem Norden schmachten läßt;
33Dann bist du's, die mit herber Flamme
34Des Polenflüchtlings Herz verzehrt,
35Und die dem Sohn von Judas Stamme
36Im Tod die Füße ostwärts kehrt,
37Als möcht' er sterbend noch erstreben
38Das Land, das ihm versagt im Leben;
39Dann lockst du, klingt im Mondenglanze
40Des Alphorns heimatsel'ger Gruß,
41Zu Straßburg von der hohen Schanze
42Den Schweizer in den wilden Fluß,
43Und von den Klängen, von den Wogen
44Wird er in seinen Tod gezogen.
45Ich selber hab' in vor'gen Jahren
46Dies wundersame Weh erfahren,
47Da Ägeus' Flut wie lautres Gold
48Zu meinen Füßen noch gerollt.
49O, wohl ist's schön an jenem Meer!
50Die schlanke Palme sah ich ragen,
51Der Tempel Säulentrümmer lagen
52Umblüht von Rosen um mich her;
53Der Himmel wölbte sich kristallen,
54Von Düften schien die Luft zu wallen,
55Zu leisem Zitherschlag erklang
56Vom Meer des Fischers Abendsang,
57Der in der Bark' auf lichter Spur
58Gen Salamis hinüberfuhr.
59Und doch! ich fühlte keine Lust,
60Es schlich ein krankhaft brennend Sehnen
61Wie Fieberhauch durch meine Brust,
62Und kaum erwehrt' ich mich der Tränen.
63Ich saß auf zack'gem Fels und lauschte,
64Ob nicht aus Nord ein Lüftchen rauschte;
65Das sog ich durstig atmend ein,
66Als ob's mich tief erquicken müßte;
67Es konnte ja zur fernen Küste
68Ein Gruß aus Deutschlands Wäldern sein.
69Und ward es still, dann blickt' ich wieder
70Hinab ins Buch auf meinen Knien
71Und ließ die alten goldnen Lieder
72Homers durch meine Seele ziehn;
73Den eignen Schmerz dann fühlt' ich mit
74Im Jammer, den der Dulder litt,
75Ich sucht' ihn in des Sängers Tönen
76Zugleich mit jenem zu versöhnen.
77Da wurdest du in meinem Weh
78Mir oftmals Hoffnung, Trost und Steuer,
79Du ewig Lied der Abenteuer,
80Du Lied des Heimwehs, Odyssee!