Paul Heyse: Das Goethehaus in Weimar (1872)

1Tut sie sich endlich auf mit Feierklang,
2Gehorsam einem edlen Fürstenworte,
3Die eigensinnig strengverschloßne Pforte?
4Die Schwelle, die ein halb Jahrhundert lang,
5Trotz ungeduld'gen Pochens, frommer Bitten,
6Kein andachtsvoller Fremdling mehr beschritten,
7Von Staub und Moder ist sie reingekehrt,
8Kein Hüter lauert, der den Zutritt wehrt,
9Und wie des abgeschiednen Hausherrn Gruß
10Erglänzt das
11Hinan die Stufen! Doch warum mit Beben
12Hemmst du den Schritt, da endlich dir gewährt,
13Was du im Traum der Sehnsucht lang begehrt?
14Warum so zaudernd mußt du aufwärts streben?
15Sieht dich nicht alles traulich heiter an?
16Doch du, mit scheuen Herzensschlägen,
17Wie unter mächt'gem Geisterbann,
18Als gingst du Offenbarungen entgegen
19Aus jener Welt, draus keiner wiederkehrt,
20Vermagst den Fuß nur stockend zu bewegen
21Und stehst und träumst? Siehst du Gesichte
22Aus des Jahrhunderts goldnem Morgenlichte,
23Wo er noch dieser Stufen sanfte Bahn,
24Das Haupt hoch tragend, schritt hinan,
25Als wandle nun sein Schatten dir zur Seite,
26Dem schüchternen Besucher zum Geleite,
27Das Herz dir treffend mit dem Feuerblick?
28O kehrt' er von den Schatten heut zurück,
29Er spräche Mut dir ein: »Sei nicht verzagt,
30Du, dem noch hell des Wirkens Sonne tagt.
31In diesen Mauern, die ihr heilig sprecht,
32Durchlebten unsern Tag wir schlecht und recht.
33Tut nun das Eure, tut's und wartet still,
34Ob Zeit auch eure Saaten reifen will.
35Doch wenn ihr hoher Vorwelt Geister ehrt,
36Zu wandeln, wo sie wohnten, seid ihr wert.«

37Durchs Fenster in den kühlen Treppenflur
38Stiehlt sich des Märzen graues Frühlicht nur,
39Umwitternd jene lieblichen Gestalten,
40Die an den Wänden Wache halten.
41Wie seid ihr in den frost'gen Nord verbannt
42Aus sommerlichem Heimatland,
43Der du die Arme zu den Göttern hebst,
44Du schlanker Knab', und mit der stummen Bitte
45Hinweg aus diesen Nebellüften strebst,
46Indessen du, keckäugiger Faun, die Schritte
47Hinaus aus enger Nische lenkst,
48Zur freien Waldnacht zu entspringen denkst,
49Und ihr dort oben leuchtet sternenklar,
50Der Dioskuren brüderliches Paar!
51So grüßtet ihr schon dieses Hauses Herrn,
52Kehrt' er zur Heimat vom gelobten Lande,
53Gefaßt zu schmiegen sich in alte Bande,
54Ob auch zum immerblühenden Strande
55Zurück ihn lockt' der Sehnsucht Lied von fern.
56Dann trat er wohl mit Seufzen hier herein,
57Der strengen Pflicht entsagend sich zu weihn,
58Und fand er euch, Gefährten des Exils,
59Voll heitren Ernstes, anmutreichen Spiels,
60Hier seiner wartend an der Schwelle,
61Sein Unmut schwand, sein Blick ward helle;
62Er fühlte: glänzt' ihm nur der Künste Licht,
63An Sonne fehl' es seinem Leben nicht.

64Und auch sein Herz, wie viel ward ihm beschert
65In warmer Häuslichkeit, am eignen Herd!
66Sieh nur im Saal dich um. Erkennst du nicht das Bild
67Der Blume, die in öden Stunden
68Nichts suchend er im Wald gefunden
69Und mit den Wurzeln ausgrub, nicht gewillt,
70Nur auf den Raub die Freundliche zu pflücken,
71Nein, stets an ihrem Duft sich zu erquicken,
72Ins Gärtchen sie verpflanzend, daß sie dort
73Unscheinbar grün' und blühe nun so fort?
74Christiane, Vielgelästerte, dein Blick,
75So freudig harmlos, preiset dein Geschick,
76Daß er dich wählt' und du ihm nichts versagt,
77Nicht nur zu flücht'ger Lust als niedre Magd:
78Ein Stück Natur, das in dem kühlen Drang
79Des Alltags warm den Busen ihm umschlang,
80Dem Vielbedürft'gen gab ein heitres Glück,
81Demütig, selbstlos, treu ein Leben lang,
82Daß, als das strenge Los dich ihm entriß,
83Am sonnigen Tag er starrt' in Finsternis.
84Und neben dir der Sohn, der frühverlorne,
85Und dort Ottilie, seines Sohns Erkorne,
86Die Enkel, die nach kurzer Jugendfrist
87Die Schwere jenes Worts zu lernen hatten:
88Weh dir, daß du ein Enkel bist!
89Und ihre Zeit hindämmerten im Schatten
90Des Glanzgestirns, an einem Namen krank.
91Doch hielten sie den Schild der Ehre blank,
92Bewährend, in ihr Dunkel eingeschlossen,
93Den Adel des Geschlechts, dem sie entsprossen.
94So blicken von den Wänden nieder
95Des Hauses innig einverstandne Glieder;
96Und Freunde haben sich hinzugefunden,
97Voran das Fürstenpaar, das jungvermählt
98Den Genius zum Lebensfreund erwählt,
99Ihm gebend, was so schön verbunden
100Kein Großer einem Dichter je gewährt:
101Neigung, Vertraun, Freiheit am warmen Herd.
102Wer nennt des Glückes Liebling ihn und priese
103Nicht seinen Bund mit euch, Karl August und Luise!
104Doch wie er früh die Edelsten gewann,
105Trat Lieb' und Treue stets an ihn heran
106In freundlichen Gestalten. Sei gegrüßt,
107Suleika, die du hier am trauten Ort
108So sinnig heiter auf uns niedersiehst,
109Verknüpft mit deinem Dichter fort und fort
110Durch zarte Bande, die die Muse webte,
111Ein Frühling, der den Alternden belebte,
112Wenn sich der West auf feuchten Schwingen
113Vom Main erhob, ihm Sehnsuchtshauch zu bringen!
114Ihr lieben Fraun, was er euch gab und war,
115Ihr bliebet nicht in seiner Schuld fürwahr.
116Für allen Schmerz und leidenschaftlich Glück
117Gabt ihr ihm beides tausendfach zurück,
118Und was an Leid den Busen ihm durchdrang,
119Ward ihm Gewinn des Lebens, ward Gesang.
120Nie aber ward mit tieferm Seelenlaut,
121Daß blöder Neugier es verborgen bliebe,
122Das liebliche Geheimnis edler Liebe
123Dem holden Lied bescheiden anvertraut.

124Doch nun, ihr teuren Bilder, weicht zurück!
125Ins Reich des Schönen öffnet sich der Blick.
126Ein Schatzhaus tut sich auf voll reicher Kunst,
127Durch liebevolles Mühn und Glückes Gunst
128Dem Sammler zugeführt. An allen Wänden
129Die Geistesspur von Meisterhänden,
130Der Kleinkunst zierlichste Gebilde,
131Bronzen, Majoliken aus Umbriens Gefilde,
132Die er erwarb auf mancher Wanderfahrt,
133Kleinode jeder Zeit und Art;
134Der Griechen edle Einfalt, stille Größe,
135Des Cinquecento sinnenfreud'ge Kraft,
136Der Deutschen tiefer Sinn in strenger Formen Haft –
137Als ob er des Magnetbergs Kraft besäße,
138Zog alles an sich seine Leidenschaft,
139Was irgend ihm verwandt. Und was war so gering,
140So groß, so einzig, daß es keine Stätte
141In seines Wesens weltenweitem Ring,
142In seines Geists Bezirk gefunden hätte!
143Und wie voran der Zeit mit Sehergang
144Er, ein Erobrer, in Gebiete drang,
145Die noch verhüllt der Menge stumpfem Blick,
146So bracht' aus allen Reichen er zurück
147Zu seinen Laren wundervolle Beute,
148Dran sich sein schönheitsdurftig Aug erfreute.
149Noch arm und unbehilflich war die Zeit,
150Das Reisen mühevoll, die Wege weit
151»dahin, dahin«, wo sich die Seele, krank
152An nordischer Trübsal, durft' im Heitren sonnen
153Und aus der Künste unerschöpftem Bronnen
154Gesundheit sich und Lebensgluten trank.
155Besitzen mußte, wer genießen wollte,
156Und war's im dürft'gen Nachbild nur,
157Im stumpfen Gips, im schüchternen Kontur,
158Das Schöne, Köstliche, dem er Verehrung zollte.
159So ward zum Pantheon dies enge Haus
160Und schmückte sich mit Götterbildern aus.
161Gemächer, Säle, Winkelchen und Gänge –
162Sie fassen kaum der Kostbarkeiten Menge.
163O Tage, Wochen, Monde hier verweilen,
164Nicht nur mit Neugierhast vorübereilen,
165In diesen Mappen jedes Blatt betrachten,
166Im Glasgehäuse jedes Ziergerät,
167An Wand und Sims das Kleinste selbst beachten,
168Geweiht durch seines Blickes Majestät,
169Und in den Zügen dieser Büsten spähn,
170Was geistverwandt sein Auge drin gesehn!

171Und wie enthüllt' uns auch ein einz'ger Tag,
172Was in den Schränken dort sich bergen mag
173An seltenen Gebilden der Natur,
174Gestein und Erzen, Pflanzen auserlesen,
175Ein buntes Vielerlei dem Laienauge nur,
176Doch ihm, der drin erkannt Gesetzesspur,
177Dem diese Chiffernschrift enträtselt offen lag,
178Ein Buch, drin er nicht müde ward zu lesen.
179Wie fühlen wir vor diesem Allverein,
180Den er umspannt, uns so begrenzt und klein!
181Wie stammeln von der Sprache, die er sprach,
182Wir nur verlorne Sätze nach,
183Ein jeder auf sein kleines Reich beschränkt,
184Der in Natur und der in Kunst versenkt,
185Der in Geschäfte, die der Tag ihm bringt
186Und spurlos schon der nächste Tag verschlingt,
187Daß, wenn das Glück sein Streben nicht betrog,
188Dem Strome gleich er sein Gebiet durchzog
189Zum Heil den nächsten Ufern, – und nun er!
190In Abgrundstiefen ein unendlich Meer,
191Das Erdrund zu umfassen früh gewohnt,
192Klar die Gestirne spiegelnd, Sonn' und Mond,
193In Sturm und Stille stets sich selber gleich
194Und Schätze bergend, die in Zeitenfernen
195Die Nachgebornen noch ihm danken lernen,
196Entreißt ein Taucher sie der Tiefe dunklem Reich!

197So tragen wir von hinnen scheubeklommen
198Die wogenden Gedanken ernst und stumm.
199Und schon hat uns der Vorsaal aufgenommen,
200Die Pforte schließt sich auf zum Heiligtum
201Des Hauses, von Erinnrungen geweiht
202Der edelsten Geselligkeit.
203Ist's wirklich dies Gemach, an Schmuck gering,
204Wo er die Fürsten abendlich empfing,
205Wo, was geadelt war durch Schönheit, Geist und Rang,
206Sich zu ihm fand, zu huldigen dem Meister,
207Der auch die widerwill'gen Geister
208Als Herrscher ihn zu ehren zwang?
209Geziemte dies bescheidenste Gerät
210Dem Tempel, den ein Götterhauch durchweht?
211O anspruchsloser Sinn der Väterzeit!
212Wie brachten wir's indes so herrlich weit.
213Was bunt und reich das Leben je geschmückt
214Zur goldnen Zeit der Kunst, was Ost und Westen
215An Pracht und Zier zu schaffen je geglückt,
216Heut findest du's gehäuft nicht in Palästen
217Der Fürsten bloß; des schlichten Bürgers Dach
218Umschließt erlesnen Hausrat mannigfach.
219Was aber frommt's euch, prunkbeflissen
220Feinsinnig auszustatten die Kulissen,
221Wenn die Komödie, die in Szene geht,
222Der Spieler kümmerlichen Geist verrät!
223Beschämt erkennen wir's: welch ein Gedränge
224Unsterblicher belebt dies dürftige Gemach!
225Wir hören längstverschollne Geisterklänge,
226Erlauchte Namen tönen nach und nach
227Durch unsern Sinn. Auf jenem kahlen Tische
228Das Heft – ist's Iphigenie? Wallenstein?
229Lehnt Schiller dort in jener Fensternische?
230Tritt Herder, Wieland in den Kreis herein,
231Der Humboldt Brüderpaar und, stets willkommen,
232Der Mann, der von Homers geweihtem Haupt
233Den einen, unteilbaren Kranz genommen?
234Auch sie, die ebenbürtig sich geglaubt
235Dem Weltbezwinger, auf dem Ruhebette,
236Dem schmalen, thront sie, lauschend in die Wette
237Mit seinen Freunden auf des Dichters Wort,
238Der ernst und still vor den Gewalt'gen trat,
239Des Spruches wohl gedenk: Im Anfang war die Tat.
240Doch sie, Corinna, fühlt an diesem Ort
241So tief wie nie: Im Anfang war das Wort! –
242Und horch, das Wort verstummt. Nun soll uns laben
243Musik. Siehst du den schwarzgelockten Knaben,
244Den schlanken, der so frei das Haupt bewegt
245Und jetzt des alten Flügels Tasten schlägt,
246Daß schwirrend unter seinem Spiel erwacht
247Der Elfenreigen der Mittsommernacht?
248Der Dichter aber, lauschend mit Entzücken,
249Die Hände leicht gefaltet auf dem Rücken,
250Sacht schreitet er das Zimmer auf und nieder,
251Und vor dem Junobildnis bleibt er stehn
252Und sinnt, als lehrten dieser Elfen Lieder
253Ihn den Sirenensang Homers verstehn.
254Und da sein Spiel der junge Meister endet,
255Wie heiter-zärtlich er sich zu ihm wendet
256Und strahlt ihn an, dem Stirn und Auge lacht,
257Und spricht, ihn küssend: Hast es brav gemacht!
258Und Zelters Angesicht, treuherzig bieder,
259Blickt von der Wand dort auf den Zögling nieder. –
260O wer zurück uns brächte solcher Stunden
261Unschätzbar Glück, das jedem, der's empfunden,
262Durchs Leben folgt', als sei von dieser Zeit
263Sein Tun und Denken höherm Ziel geweiht,
264Als habe, wer durch dies Gemach gegangen,
265Des Geistes Ritterschlag empfangen!

266So war auch dir zu Sinn, du edler Schwärmer,
267Der du die Sappho schufst und, wohl bewußt
268Der hohen Sendung in der eignen Brust,
269Nie dich empfandst an Worten ärmer,
270Nie reicher an Gefühl. War's denn kein Traum?
271Was jahrelang inbrünstig du erstrebt,
272Nun greifst du's mit der Hand, nun wird's erlebt:
273Du stehst vor ihm! Und doch, du glaubst es kaum,
274Daß dir sein Wort ertönt, sein Blick erstrahlt,
275Den du in jugendlichen Gluten
276Gleich einem Gott unirdisch dir gemalt.
277Und da du jetzt ihn siehst, den Liebevollen, Guten,
278Wie er vertraulich sich dir naht,
279Die Hand, die Götz und Faust geschrieben hat,
280Die deine faßt, zu Tische dich zu führen,
281Da übermannt dich fassungsloses Rühren,
282Und denkend, daß du Gast in
283In stürmische Tränen brichst du aus.

284O süße Tränen, Tau so fruchtbar mild,
285Du edelster, der Menschenaug' entquillt,
286Wenn Andacht, scheuer Dank, des Strebens Qual und Lust
287Gewitternd gärt noch in der Mannesbrust,
288Die in der Rätsel Überschwang,
289Stolz und verzagt, voll Inbrunst, selig bang
290Erschrickt vor so viel Himmelsgnaden
291Und sich in Zähren muß entladen.
292So weint die Rebe bei des Lenzes Nahn,
293Der einst im Herbste wird die Traube reifen,
294So reift' auch dir, Poet, die Kraft heran,
295Das goldne Vließ der Dichtung zu ergreifen.

296Doch wir – von Schatten nur sind wir umringt,
297Die unser Herzblut nicht zum Sprechen bringt.
298Wir sehn sein leuchtend Bildnis an der Wand,
299Den ernsten Blick groß von uns abgewandt,
300Und nur mit Zögern naht sich unser Fuß
301Dem Allerheiligsten des Genius,
302Der stillen Werkstatt, wo dem Lärm entrückt
303Der Immertätige geforscht, gesonnen
304Und sich und uns das Köstlichste gewonnen.
305Wie aber wird das Herz uns hier bedrückt!
306Wie unfroh dieser Raum, wie eng umschränkt!
307Wie tief herab die Decke hängt!
308Kein Bild, kein Teppich, keine Zier
309An Sesseln, Tischen, Pulten hier,
310Nur was dem nacktesten Bedürfnis diene,
311Daß einem Pfarrer, Lehrer, Richter,
312Und lebt' er auf dem Dorf in schlichter
313Genügsamkeit, zu arm der Hausrat schiene.
314Ihm aber gnügt' er. Nur gekehrt nach innen,
315Nichts Sinnlichs durfte stören ihn im Sinnen.
316Wie tausendmal durchschritt er dies Gemach,
317Indes gebückt am Tisch der Schreiber lauschte,
318Aufzeichnend, was beseelt die Lippe sprach,
319Wenn vor dem innern Ohr der Quell der Dichtung rauschte.
320Sein Blick hing an dem Sonnenstrahl,
321Der durch des Ladens Spalt sich in das Dunkel stahl
322Und farbenreich durch den Kristall gebrochen
323Geheim Gesetz ihm ausgesprochen.
324Und wenn vom strengen Werk ermattet
325Er innehaltend hin zum Fenster trat,
326Sah sprossen er des Gärtchens junge Saat
327Und hörte, wie in Spiel und muntrem Lauf
328Der Enkel Stimme klang herauf,
329Daß auf der Menschheit Höh'n, wo sich sein Geist erging,
330Ein warmer Lebenshauch sein Herz umfing.

331Und Wärme brauchte dieses Herz, verbannt
332In eine frostig liebeskarge Welt.
333Die Besten, die sein Stern ihm zugesellt,
334Wie haben sie sein Bestes oft verkannt!
335Doch er, so oft ein Mensch sich ihm ergab,
336Von seinem Gipfel ließ er sich herab
337Und adelte, wen er zum Freund erkor,
338Und zog auch den Geringen mit empor,
339Bis er enttäuscht wie manchmal mußt' erkennen:
340Der Mensch hat nur sich selber sein zu nennen.
341Ach, wenn er hier am stillen Abend stand,
342Über die niedre Gartenmauer
343Den Blick ins graue Firmament gespannt,
344Ergriff ihn wohl erhabne Trauer,
345Und seiner Frühzeit schwankende Gestalten,
346Die zärtlich sich ihm nahten, ließ er walten,
347Bevölkernd mit vertrauter Schatten Schar
348Sein greises Leben, das vereinsamt war.
349Ihm aber war gesteckt ein weites Ziel.
350Wer lange lebt, der überlebt so viel,
351Und statt des Trosts, der junge Schmerzen stillt,
352Den seufzend oft der Alternde beneidet:
353Im Lied zu sagen, was er leidet,
354Sein Weh zu prägen in ein ew'ges Bild,
355Ist ihm als Stab und Stütze nur verstattet
356Beschäftigung, die nie ermattet,
357Die abends ihn bescheiden sprechen macht,
358Er hab' ein redlich Tagewerk vollbracht.

359Ach, wird in diesen engen Wänden
360Die Seele trauervoll beklemmt,
361Als ob wir in dem leeren Käfig ständen,
362Der eines Adlers Flügelkraft gehemmt!
363Nicht kann der Frühlingssonnenstrahl,
364Der sanft den Garten überglänzt, uns trösten.
365Wie hätten jenem Edelsten und Größten
366Ein Leben wir gegönnt fern jeder dumpfen Qual,
367Statt daß er hier im niedern Raum
368Zu Ende träumte seines Lebens Traum
369Und, wenn er späte Mitternacht
370Einsam am Pult herangewacht,
371Im schmalen Kämmerlein zur Seiten
372Sich ließ sein einfach Bett bereiten,
373Wo ihm das Haupt ein leichter Schlaf umwob,
374Bis ihn ein letzter aller Erdenmühen
375Mit sanfter Freundeshand enthob.

376Doch kaum daß dieser Flammenblicke Glühen
377Erloschen war, so ging ein tief Erschüttern
378Rings durch die Welt, als sei sie selbst bedroht
379Von Todesnacht, und durch die Lüfte zittern
380Hört man den Klageruf: der große Pan ist tot!

381Nein! wie vom Erzbild, das der Meister goß,
382Durch Hammerschlag die Erdenhülle fällt,
383Die des Metalles Strahlenkern umschloß,
384Daß rein hinfort erglänzt vor der erstaunten Welt
385Das hehre Werk, so stand erhaben
386Sein Bild, da sie den Erdenrest begraben.
387Es schwieg der Neid, Verkennung wurde scheu,
388Undank und Haß hielt kleinlaut sich verborgen.
389Aus Todesnacht ging auf ein Geistesmorgen,
390Verschwenderisch an Gaben, ewig neu.
391An seiner Gruft vorüber gehn die Zeiten,
392Und wechselnd regt sich der Parteien Toben
393Im Kampf, den nimmer wir zu Ende streiten.
394Er aber steht in seiner Ruhe droben,
395Und wie der Nordstern jetzt von Nebelduft umwoben,
396Jetzt klar herabglänzt in der Wogen Spiel,
397Ein unverrückbar leuchtend Ziel
398Dem Schiffer weisend, so aus Sternenklarheit
399Herniedersendet er den Strahl der Wahrheit
400Und leitet durch den Sturm den schwanken Kiel.
401So wird die Spur von seinen Erdetagen
402Nicht in Äonen untergehn,
403Und die in dunklen Lebensfragen
404Verirrt und bang nach einem Führer spähn,
405Hieher, zu dieses Hauses ernstem Frieden
406Hinflüchten mögen sich die Zweifelsmüden,
407Zu lernen, wie entsagungsvoll begnügt
408Des Glückes Liebling selbst sich dem Geschick gefügt.
409Dann, scheiden sie von diesem heil'gen Ort,
410Wird als Geleitspruch sie umschweben
411Das tapfre, siegesfreud'ge Wort
412Des, der ein Kämpfer war: Gedenk zu leben!

(Aus: Haider, Thomas. A Large Annotated Reference Corpus of New High German Poetry. In: Proceedings of the 2024 Joint International Conference on Computational Linguistics, Language Resources and Evaluation (LREC-COLING 2024), S. 677–683, Torino, Italia. ELRA and ICCL. 2024.)

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Dieses Gedicht könnte aus folgender Literaturepoche stammen:

Paul Heyse (1830-1914)

* 03/15/1830 in Berlin, † 04/02/1914 in München

männlich, geb. Heyse

deutscher Schriftsteller

(Aus: Wikidata.org)

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