Felix Dahn: Die Vestalin (1873)

1In den stillen Tempel lärmend
2Bricht das Volk, empört in Wut:
3»auf und schleppt sie vor den Prätor,
4Tilgt die Schuld in ihrem Blut,
5Denn kein Rauch steigt mehr zum Himmel,
6Und erloschen liegt die Glut.

7Priesterin, wo war dein Eifer,
8Priesterin, wo war dein Herz?
9Träumtest du der Liebe Träume,
10Pflogest du der Liebe Scherz?
11Sucht den Buhlen und zerfleischt ihn
12Glied für Glied mit scharfem Erz.

13Doch sie selbst scharrt in die Erde
14Lebend ein mit ihrer Schmach.«
15Also tobt die blinde Menge,
16Von den Säulen schallt es nach.
17Doch erwacht aus tiefem Schweigen
18Trauervoll die Jungfrau sprach:

19»wehe, rohe Männer, wehe,
20Die ihr scheulos, wild, im Streit,
21Auf den Lippen Zorn und Flüche,
22In dies Haus getreten seid:
23Nicht die Priesterin, ihr selber
24Habt das Heiligtum entweiht.«

25»heuchlerin, da sieh die Asche!
26Sprich, was löschte diese Glut?«
27»unauslöschlich lodert Vestas
28Herd in meines Herzens Hut:
29Und was diese Brände löschte, –
30Das war meiner Tränen Flut.«

31»tränen? was hast du zu weinen,
32Du der Göttin Dienerin?«
33»vor drei Tagen sank bei Cannä
34Romas Ruhm und Macht dahin,
35Und als Priesterin ich worden,
36Blieb ich dennoch Römerin.«

37»nicht um Rom, um einen Buhlen,
38Der gefallen, weint sie wohl:
39Auf! ergreift sie, sie soll sterben,
40Schleift sie fort aufs Kapitol.«
41Doch die Priesterin umklammert
42Fest der Göttin Steinsymbol:

43»höre mich, du große Göttin,
44Die du reiner dort nicht thronst
45In den Hallen des Olympos,
46Als du mir im Herzen wohnst,
47Die du schrecklich strafst den Frevel,
48Wunderbar die Unschuld lohnst:

49Höre mich, die alle Feuer
50Mit dem heil'gen Atem schürt:
51Bin ich rein an Leib und Seele,
52Wie der Priesterin gebührt, –
53Auf, entzünde diese Kohlen,
54Wie sie meine Hand berührt.«

55Spricht's, und auf die schwarzen Brände
56Legt sie leis die weiße Hand: –
57Und ein Donnerschlag erdröhnet,
58Licht umflutet ihr Gewand,
59Und empor vom Opferherde
60Lodert goldig heller Brand.

61Auf die Kniee stürzt die Menge:
62Doch die hohe Jungfrau spricht:
63»wenn der Unschuld hier auf Erden
64Jeder letzte Schutz gebricht,
65Mutig greift sie in den Himmel,
66Holt herunter sein Gericht.«

(Aus: Haider, Thomas. A Large Annotated Reference Corpus of New High German Poetry. In: Proceedings of the 2024 Joint International Conference on Computational Linguistics, Language Resources and Evaluation (LREC-COLING 2024), S. 677–683, Torino, Italia. ELRA and ICCL. 2024.)

Bitte prüfe den Text zunächst selbst auf Auffälligkeiten und nutze erst dann die Funktionen!

Wähle rechts unter „Einstellungen“ aus, welcher Aspekt untersucht werden soll. Unter dem Text findest du eine Erklärung zu dem ausgewählten Aspekt.

Dieses Gedicht könnte aus folgender Literaturepoche stammen:
Author

Felix Dahn (1834-1912)

* 02/09/1834 in Hamburg, † 01/03/1912 in Breslau

männlich, geb. Dahn

deutscher Jurist, Schriftsteller, Historiker

(Aus: Wikidata.org)

Bitte beachte unsere Hinweise zur möglichen Fehleranfälligkeit!

Gedichtanalysen zu diesem Gedicht