Felix Dahn: Der Erdgeist und das Mädchen (1873)

1Oftmals ging die weiße Mila,
2Mila mit den roten Locken,
3In das dunkle Waldgebirge,
4Wo des Erdgeists Höhle lag.

5Und sie kränzt die roten Locken
6Mit den blauen Glockenblumen,
7Und sie streckt die weißen Arme
8Schimmernd nach der Felsschlucht aus.

9»erdgeist,« ruft sie spottend, »lieber,
10Dunkler, feuerschöner Erdgeist,
11Komm hervor und laß dich schauen:
12Denn mein Herz verlangt nach dir.«

13Und dann braust es in den Schlünden
14Und dann zuckt es in den Felsen
15Und dann grollt es in den Tiefen,
16Dampf und Funken steigen auf.

17Und der Geist rief aus dem Berge:
18»kind, laß ab, mich zu verspotten,
19Kind, laß ab, mich aufzureizen,
20Denn du quälst mich freventlich.

21Sieh, es zucket in den Felsen,
22Weil dein Ruf mein Mark durchdringet,
23Und es sprühen rote Funken,
24Weil dein Bild mein Herz entflammt.

25Zittre, wenn ich, deinem Rufe
26Folgend, aus der Tiefe steige:
27Ich zerstöre, was ich liebe
28Und mein Kuß ist Flammentod.«

29Doch es lacht die weiße Mila
30Und sie schüttelt keck die Locken:
31»also ich, das kleine Mädchen,
32Quäle dich, den mächt'gen Geist?

33Erdgeist, sieh, das eben freut mich!
34Zucke nur, und glüh' und leide! –
35Und es lüstet mich auch sehnlich,
36Und es reizt mich, dich zu schau'n.

37Und nicht fürcht' ich deine Flammen,
38Weil mich weise Mönche lehrten,
39Augenblicks mußt du erliegen
40Vor dem einen Wörtlein: – 'Kreuz.'

41Sieh, schon ruht der Felsen Zucken,
42Es versiegen Dampf und Funken
43Und in Ohnmacht sinkt dein Toben,
44Weil ich nur dies Wörtlein sprach.«

45Süß die Lindendüfte hauchten,
46Heiß die Nachtigallen schlugen
47Durch die dunkle, liebesschwüle,
48Liebestrunkne Sommernacht.

49Neckend halb und halb in Sehnsucht
50Flüstert an den Fels geschmieget
51Mila leise Liebesworte
52Und ihr Busen wogt und wallt:

53»steig' empor doch, dunkler Erdgeist!
54Mächtig sehnt mich's, dich zu schauen:
55Zucken fühl' ich deine Felsen,
56Funken sprühst du wie noch nie.

57Mich verdrießt der matten Herzen,
58Die mich frei'n, der Erdenknaben:
59Steig' empor, denn meine Seele
60Ahnet dich als artverwandt.«

61Da erkracht im Grund die Erde
62Und aus urwelttiefem Schoße
63Steigt in Glut und Pracht und Lohe
64Schrecklich schön der Gott empor:

65Auf dem Haupt die Feuerkrone,
66Auf den Schultern schwarze Locken:
67Göttlich traurig sind die Augen
68Und doch jeder Blick ein Blitz.

69Stolz und still und majestätisch
70Breitet weit er aus die Arme
71Und ein Flammenpurpurmantel
72Flutet herrlich um ihn her.

73Da vergißt der Priesterweisheit
74Und des Rettungswörtleins Mila,
75Und nur ein Wort kann sie denken,
76Kann sie flüstern: »O wie schön!«

77Und in seine Arme sinkt sie,
78Weiße Glut steigt auf und schweigend,
79Triumphierend in die Tiefe
80Trägt der Erdgeist seine Braut.

(Aus: Haider, Thomas. A Large Annotated Reference Corpus of New High German Poetry. In: Proceedings of the 2024 Joint International Conference on Computational Linguistics, Language Resources and Evaluation (LREC-COLING 2024), S. 677–683, Torino, Italia. ELRA and ICCL. 2024.)

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Dieses Gedicht könnte aus folgender Literaturepoche stammen:

Felix Dahn (1834-1912)

* 02/09/1834 in Hamburg, † 01/03/1912 in Breslau

männlich, geb. Dahn

deutscher Jurist, Schriftsteller, Historiker

(Aus: Wikidata.org)

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