Friedrich Hölderlin: Die Weisheit des Traurers (1789)

1Hinweg, ihr Wünsche! Quäler des Unverstands!
2Hinweg von dieser Stätte, Vergänglichkeit!
3Ernst, wie das Grab, sei meine Seele!
4Heilig mein Sang, wie die Totenglocke!

5Du, stille Weisheit! öffne dein Heiligtum.
6Laß, wie den Greis am Grabe Cecilias,
7Mich lauschen deinen Göttersprüchen,
8Ehe der Toten Gericht sie donnert.

9Da, unbestochne Richterin, richtest du
10Tyrannenfeste, wo sich der Höflinge
11Entmanntes Heer zu Trug begeistert,
12Wo des geschändeten Römers Kehle

13Die schweißerrungne Habe des Pflügers stiehlt,
14Wo tolle Lust in güldnen Pokalen schäumt,
15Und ha! des Greuels! an getürmten
16Silbergefäßen des Landes Mark klebt.

17Halt ein! Tyrann! Es fähret des Würgers Pfeil
18Daher. Halt ein! es nahet der Rache Tag,
19Daß er, wie Blitz die giftge Staude,
20Nieder den taumelnden Schädel schmettre.

21Doch ach! am grimmen richtenden Saitenspiel
22Hinunter wankt die zitternde Rechte mir.
23In lichtre Hallen, gute Göttin! –
24Wandle der Sturm sich in Haingeflüster!

25Da schlingst du liebevoll um die Jammernde
26Am Grabe des Erwählten den Mutterarm,
27Vor Menschentrost dein Kind zu schützen,
28Schenkest ihr Tränen, und lispelst leise

29Vom Wiedersehn, vom seligen Einst ins Herz –
30Da schläft in deiner Halle der Jammermann,
31Dem Priesterhaß das Herz zerfleischet,
32Den ihr Gericht im Gewahrsam foltert,

33Der bleiche Jüngling, der in des Herzens Durst
34Nach Ehre rastlos klomm auf der Felsenbahn
35Und ach umsonst! wie wandelt er so
36Ruhig umher in der stillen Halle.

37Mit Brudersinn zu heitern den Kummerblick,
38Der Kleinen Herz zu leiten am Gängelband,
39Sein Haus zu baun, sein Feld zu pflügen,
40Wird ihm Beruf! und die Wünsche schweigen.

41Verzeih der bangen Träne, du Göttliche!
42Auch ich vielleicht! – zwar glühet im Busen mir
43Die Flamme rein und kühn, und ewig –
44Aber zurück aus den Lorbeerhainen

45Stieß unerweicht die Ehre den Traurenden,
46So lang, entflohn dem lachenden Knabenspiel,
47Verhöhnend all die Taumelfreuden,
48Treu und ñ — ñ mein Herz ihr huldigt.

49Drum öffne du die Arme dem Traurenden,
50Laß deines Labebechers mich oft und viel
51Und einzig kosten, nenne Sohn mich!
52Gürte mit Stolz mich, und Kraft und Wahrheit!

53Denn viel der Stürme harren des Jünglings noch,
54Der falschen Gruben viele des Wanderers,
55Sie alle wird dein Sohn besiegen,
56So du mit stützendem Arm ihn leitest.

(Aus: Haider, Thomas. A Large Annotated Reference Corpus of New High German Poetry. In: Proceedings of the 2024 Joint International Conference on Computational Linguistics, Language Resources and Evaluation (LREC-COLING 2024), S. 677–683, Torino, Italia. ELRA and ICCL. 2024.)

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Dieses Gedicht könnte aus folgender Literaturepoche stammen:

Friedrich Hölderlin (1770-1843)

* 03/20/1770 in Lauffen am Neckar, † 06/07/1843 in Tübingen

männlich, geb. Q114498136

deutscher Lyriker (1770-1843)

(Aus: Wikidata.org)

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