Friedrich Hölderlin: An die Natur (1795)

1Da ich noch um deinen Schleier spielte,
2Noch an dir, wie eine Blüte, hing,
3Noch dein Herz in jedem Laute fühlte,
4Der mein zärtlichbebend Herz umfing,
5Da ich noch mit Glauben und mit Sehnen
6Reich, wie du, vor deinem Bilde stand,
7Eine Stelle noch für meine Tränen,
8Eine Welt für meine Liebe fand,

9Da zur Sonne noch mein Herz sich wandte,
10Als vernähme seine Töne sie,
11Und die Sterne seine Brüder nannte
12Und den Frühling Gottes Melodie,
13Da im Hauche, der den Hain bewegte,
14Noch dein Geist, dein Geist der Freude sich
15In des Herzens stiller Welle regte,
16Da umfingen goldne Tage mich.

17Wenn im Tale, wo der Quell mich kühlte,
18Wo der jugendlichen Sträuche Grün
19Um die stillen Felsenwände spielte
20Und der Aether durch die Zweige schien,
21Wenn ich da, von Blüten übergossen,
22Still und trunken ihren Othem trank
23Und zu mir, von Licht und Glanz umflossen,
24Aus den Höhn die goldne Wolke sank –

25Wenn ich fern auf nackter Heide wallte,
26Wo aus dämmernder Geklüfte Schoß
27Der Titanensang der Ströme schallte
28Und die Nacht der Wolken mich umschloß,
29Wenn der Sturm mit seinen Wetterwogen
30Mir vorüber durch die Berge fuhr
31Und des Himmels Flammen mich umflogen,
32Da erschienst du, Seele der Natur!

33Oft verlor ich da mit trunknen Tränen
34Liebend, wie nach langer Irre sich
35In den Ozean die Ströme sehnen,
36Schöne Welt! in deiner Fülle mich;
37Ach! da stürzt ich mit den Wesen allen
38Freudig aus der Einsamkeit der Zeit,
39Wie ein Pilger in des Vaters Hallen,
40In die Arme der Unendlichkeit. –

41Seid gesegnet, goldne Kinderträume,
42Ihr verbargt des Lebens Armut mir,
43Ihr erzogt des Herzens gute Keime,
44Was ich nie erringe, schenktet ihr!
45O Natur! an deiner Schönheit Lichte,
46Ohne Müh und Zwang entfalteten
47Sich der Liebe königliche Früchte,
48Wie die Ernten in Arkadien.

49Tot ist nun, die mich erzog und stillte,
50Tot ist nun die jugendliche Welt,
51Diese Brust, die einst ein Himmel füllte,
52Tot und dürftig, wie ein Stoppelfeld;
53Ach! es singt der Frühling meinen Sorgen
54Noch, wie einst, ein freundlich tröstend Lied,
55Aber hin ist meines Lebens Morgen,
56Meines Herzens Frühling ist verblüht.

57Ewig muß die liebste Liebe darben,
58Was wir lieben, ist ein Schatten nur,
59Da der Jugend goldne Träume starben,
60Starb für mich die freundliche Natur;
61Das erfuhrst du nicht in frohen Tagen,
62Daß so ferne dir die Heimat liegt,
63Armes Herz, du wirst sie nie erfragen,
64Wenn dir nicht ein Traum von ihr genügt.

(Aus: Haider, Thomas. A Large Annotated Reference Corpus of New High German Poetry. In: Proceedings of the 2024 Joint International Conference on Computational Linguistics, Language Resources and Evaluation (LREC-COLING 2024), S. 677–683, Torino, Italia. ELRA and ICCL. 2024.)

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Dieses Gedicht könnte aus folgender Literaturepoche stammen:

Friedrich Hölderlin (1770-1843)

* 03/20/1770 in Lauffen am Neckar, † 06/07/1843 in Tübingen

männlich, geb. Q114498136

deutscher Lyriker (1770-1843)

(Aus: Wikidata.org)

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