Johann Gottfried Herder: Erstes Selbstgespräch (1765)

1»was ich gewesen, ward und könnte sein
2Und nicht bin?« O, ein Knäul von tausend Fragen,
3Vorwürfen, Zweifeln, Selbstverdammung, Pein
4Der innern Folter webt mich ein!
5Ich erwach'! Gedankenloser Schlaf – und Du,
6Traumvoller Schlaf – wo seid Ihr? Falsche Ruh,
7In die mich Höllenzephyrs wehten! Pestische Ruh!
8Der Lustschweiß meines Traums wird Angstschweiß! ach,
9Auf meiner Stirn zu Eis! – Eis wie ein Frühlingsbach
10Vom nordlichen Hauch der kalten Mitternacht! –
11Eis wie die Todesthrän' im Aug' der Menschlichkeit! –
12So stirbt die kalte Thrän' zu Stein! – – –
13Ich träges Schilf an der Vergessenheit
14Ufer, gewiegt von stygischen Zephyrs, ach,
15Verwuchs im Staube – saust' der trüben Nacht
16Müssige Lieder, und jetzt, da Morgen beginnt,
17Ich, von Hoffnungsthau entperlt, vom Strahl
18Der Sonne gewelkt, sink' in der Sichel Arm
19Und seufze: »Mensch! Gott erbarm'!«

20Ein doppelt Ich! – Was bin ich denn? Ich? Nichts
21Halb Thier, das schläft und ißt,
22Halb Herz, das stets befiehlt, und nie geschieht's,
23Frech spornt und, eh es büßt,

24Schon bebt! denn, Herz, von Menschenfleisch gewebt,
25Geknüpft ins Erdenthum,
26Nur schwach schlägst Du; oft irrt, oft bebt,
27Oft steht Dein Puls nach Ruhm.

28Wenn in Dir sonst ein Gott nie ruhig thront,
29Bist Du mir leere Nuß,
30Wo, schlafend jetzt, einst nagend, wohnt
31Ein Wurm, der (o Verdruß!)

32Der Federn erste, Deinen stärksten Ast,
33Des Luftbaus Stütz', zernagt
34Zu Moder, Schmach, Ruin! – O, faßt
35Mich Feuer! Ich fühl's, es tagt!

36Ja! leben will ich und modern nicht! – Ich will! –
37Was Du und Gott, Dein Göttlicher, spricht, steht da! –
38Staub bin ich; denn Staub wollt' ich sein! – doch nah
39Am dunkeln Feuermeer oben gebar sich still
40Ein Funke zum Gott mir, der mir glüht
41In jeder Nerv'! (ich fühl's!) im Auge des Adlers sieht
42Nach Höhn, wovor sich kreuzten, schauderten, staunten Alle!
43Und ich! mein jedes Staubtheil ruft mit Schalle
44Herauf: »Ein Mensch, ein Gott!« herauf!

(Aus: Haider, Thomas. A Large Annotated Reference Corpus of New High German Poetry. In: Proceedings of the 2024 Joint International Conference on Computational Linguistics, Language Resources and Evaluation (LREC-COLING 2024), S. 677–683, Torino, Italia. ELRA and ICCL. 2024.)

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Dieses Gedicht könnte aus folgender Literaturepoche stammen:

Johann Gottfried Herder (1744-1803)

* 08/25/1744 in Mohrungen, † 12/18/1803 in Weimar

männlich, geb. Herder

deutscher Schriftsteller, Übersetzer, Theologe und Philosoph

(Aus: Wikidata.org)

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