Johann Gottfried Herder: 23. Opheliens verwirrter Gesang um ihren erschlagenen Vater (1773)

1Ich will nicht mit ihr sprechen –

2EdELMANN.

3Aber sie
4ist dringend, in der That von Sinnen, sie
5verdienet wahrlich Mitleid.

6KöNIGIN.

7Was will sie?

8EdELMANN.

9Sie spricht von ihrem Vater viel. Sie sagt,
10sie hör', 's geb Kniffe in der Welt, und ächzt,
11schlägt an die Brust sich, stößt den Strohhalm fort,
12die Worte sagen nichts, und dennoch bringt
13das ungestalte Nichts die Hörenden
14zum Denken; sie fang'n es ihr auf, und passen's
15auf ihren eignen Sinn. Sie winkt, sie schüttelt,
16Sie macht Gebehrden, daß man glauben muß,
17sie denke was dabei, doch weis man nichts
18gewiß und meist unglücklich –

19HoRATIO.

20Es wäre gut,
21man spräche mit ihr, denn sie könnte doch
22in Uebeldenkenden gefährlichen
23Verdacht erregen.

24KöNIGIN.

25Laßt sie ein! So gehts
26der Sünde. Meiner kranken Seele scheint
27nun jeder Tand ein Bote grossen Unglücks.
28So voll kunstlosen Argwohns ist Unthat;
29sie fürchtet stets und fördert selbst Verrath.

30OpHEL.

31Wo ist die schöne Majestät von Dännmark?

32KöNIGIN.

33Wie gehts, Ophelia?

34OpHEL.

35Woran soll ich dein Liebchen denn,
36Dein Liebchen kennen nun?
37An seinem Pilgerhut und Stab,
38Und seinen Sandelschuh'n.

39KöNIGIN.

40Ach süsses Mädchen, was soll dieses Lied?

41OpHEL.

42Sagt ihr, was 's soll? Ich bin euch, hört:
43Er ist todt und hin, ist todt und hin
44Gegangen ins Grab hinein.
45Zu seinem Haupt ein Rasen liegt,
46Zu Füssen ihm ein Stein.

47KöNIGIN.

48Aber Ophelia –

49OpHEL.

50Ich bitt euch, hört:
51Sein Leichenhemd wie weisser Schnee

52KöNIGIN

53Ach, seht sie an.

54OpHEL

55Bestreut mit süssen Blumen –
56Es ging zum Grab' hin naß bethaut
57Mit treuer Liebe Thränen. – –

58KöNIG.

59O Hitze! trockne auf mein Hirn. Ihr Thränen
60Sieb'nfach gesalzen, brennt mein Auge stumpf!
61Beim Himmel, Mädchen, deine Raserey
62Soll schwer bezahlet werden, daß die Schale
63Auffliege. Rosenknöspchen, süsses Mädchen,
64Ophelia, liebe Schwester! Himmel, ists,
65Ists möglich? der Verstand ein's jungen Mädchen
66Kann mit ein's alten Mannes Leben hinseyn!
67Natur, du bist fein in der Liebe! fein,
68Du schickst von deinem Selbst ein kostbar Etwas
69Dem Dinge, das du liebest, nach –

70OpHEL

71Sie trug'n ihn auf der Baare blos,
72Und manche Zähr' aufs Grab ihm floß –
73Fahr wohl, mein Täubchen –

74LaERT.

75Hätt'st du noch deinen Witz und wolltest mich
76Zur Rache überreden; Könnt'st du's mehr?

77OpHEL.

78Ihr müst singen:
79Nieder! Nieder!
80Senken ihn nieder!
81Wie herrlich der Schluß passet!
82Nieder! Nieder!
83Er ist aus dem falschen Verwalter, der seines Herrn Tochter stahl.

84LaERT.

85Ein Denkmaal im Wahnsinn! – Andenken,
86Erinnerung, wie sie sich gehören.

87Denn mein lieber Süsser ist all meine Lust.
88LaERT.

89Andenken, Gram und Jammer, die Hölle selbst
90Macht sie zu Lieb' und Anmuth –

91OpHEL.

92Und wird er denn nicht wieder kommen?
93Und wird er denn nicht wieder kommen?
94Nein! nein! er ist todt!
95Geh auch ins Todesbett,
96Er wird nicht kommen! Er kann nicht kommen!

97Schneeweiß, Silber war sein Bart,
98Flächsenzart sein Scheitel war.
99Er ist hin, Er ist hin!
100Werfen wir's Seufzen hin,
101Hab er die seel'ge Ruh.

102Und alle Christenseelen. Gott mit euch –

(Aus: Haider, Thomas. A Large Annotated Reference Corpus of New High German Poetry. In: Proceedings of the 2024 Joint International Conference on Computational Linguistics, Language Resources and Evaluation (LREC-COLING 2024), S. 677–683, Torino, Italia. ELRA and ICCL. 2024.)

Bitte prüfe den Text zunächst selbst auf Auffälligkeiten und nutze erst dann die Funktionen!

Wähle rechts unter „Einstellungen“ aus, welcher Aspekt untersucht werden soll. Unter dem Text findest du eine Erklärung zu dem ausgewählten Aspekt.

Dieses Gedicht könnte aus folgender Literaturepoche stammen:

Johann Gottfried Herder (1744-1803)

* 08/25/1744 in Mohrungen, † 12/18/1803 in Weimar

männlich, geb. Herder

deutscher Schriftsteller, Übersetzer, Theologe und Philosoph

(Aus: Wikidata.org)

Bitte beachte unsere Hinweise zur möglichen Fehleranfälligkeit!

Gedichtanalysen zu diesem Gedicht