1Ueber dem Brünnlein nicket der Zweig,
2Waldvögel zwitschern und flöten,
3Wild Anemon' und Schlehdorn bleich
4Im Abendstrale sich röthen,
5Und ein Mädchen mit blondem Haar
6Beugt über der glitzernden Welle,
7Schlankes Mädchen, kaum fünfzehn Jahr,
8Mit dem Auge der scheuen Gazelle.
9Ringelblumen blättert sie ab:
10„liebt er, liebt er mich nimmer?“
11Und wenn „liebt“ das Orakel gab,
12Um ihr Antlitz gleitet ein Schimmer:
13„liebt er nicht“ — o Grimm und Graus!
14Daß der Himmel den Blüten gnade!
15Gras und Blumen, den ganzen Strauß,
16Wirft sie zürnend in die Cascade.
17Gleitet dann in die Kräuter lind,
18Ihr Auge wird ernst und sinnend;
19Frommer Eltern heftiges Kind,
20Nur Minne nehmend und minnend,
21Kannte sie nie ein anderes Band
22Als des Blutes, die schüchterne Hinde;
23Und nun Einer, der nicht verwandt —
24Ist das nicht eine schwere Sünde?
25Muthlos seufzet sie niederwärts,
26In argem Schämen und Grämen,
27Will zuletzt ihr verstocktes Herz
28Recht ernstlich in Frage nehmen.
29Abentheuer sinnet sie aus:
30Wenn das Haus nun stände in Flammen,
31Und um Hülfe riefen heraus
32Der Carl und die Mutter zusammen?
33Plötzlich ein Perlenregen dicht
34Stürzt ihr glänzend aus beiden Augen,
35In die Kräuter gedrückt ihr Gesicht,
36Wie das Blut der Erde zu saugen,
37Ruft sie schluchzend: „ja, ja, ja!“
38Ihre kleinen Hände sich ringen,
39„retten, retten würd' ich Mama,
40Und zum Carl in die Flamme springen!“