Annette von Droste-Hülshoff: Der Traum (1844)

1Jüngst hab' ich dich gesehn im Traum,
2So lieblich saßest du behütet,
3In einer Laube grünem Raum,
4Von duftendem Jasmin umblüthet,
5Durch Zweige fiel das goldne Licht,
6Aus Vogelkehlen ward gesungen,
7Du saßest da, wie ein Gedicht
8Von einem Blumenkranz umschlungen.

9Und deine liebe Rechte trug
10Das Antlitz mit so edlen Sitten,
11Im Sand das aufgeschlagne Buch
12Schien von dem Schooße dir geglitten;
13Dich lehnend an den frischen Haag
14Hauchtest du flüsternd leise Küsse,
15Im Auge eine Thräne lag
16Wie Thau im Kelche der Narzisse.

17Dich anzuschaun war meine Lust,
18Zu lauschen deiner Züge Regen,
19Und dennoch hätt' ich gern gewußt,
20Was dich so innig mocht' bewegen?
21Da bogst du sacht hinab den Zweig,
22Strichst lächelnd an der Spitzenhaube,
23An deine Schulter huscht' ich gleich,
24Sah einen Baum in schlichtem Laube:

25Und auf dem Baume saß ein Fink,
26Der schleppte dürres Moos und Reisig,
27„schau her, schau wieder!“ zirpt' er flink
28Und förderte am Nestchen fleißig;
29Er sah so keck und fröhlich aus,
30Als trüg er des Flamingo Kleider,
31So sorglich hüpft er um sein Haus,
32Als fürcht' er bösen Blick und Neider.

33Und wenn ein Reischen er gelegt,
34Dann rief er alle Welt zu Zeugen,
35Als müsse was der Garten hegt,
36Blum' und Gesträuch sich vor ihm neigen;
37Um deine Lippe flog ein Zug,
38Wie ich ihn oft an ihr gesehen,
39Und meinen Namen ließ im Flug
40Sie über ihre Spalte gehen.

41Schon hob ich meine Hand hinauf
42Mit leisem Schlage dich zu strafen,
43Allein da wacht ich plötzlich auf
44Und bin nicht wieder eingeschlafen;
45Nur deiner hab' ich fortgedacht,
46Säh dich so gern am grünen Haage,
47Mich dünkt, so lieb wie in der Nacht
48Sah ich dich noch an keinem Tage.

49Im Eise schlummern Blum' und Zweig,
50Dezemberwinde schneidend wehen,
51Der Garten steht im Wolkenreich,
52Wo tausend schönre Gärten stehen;
53So golden ist kein Sonnenschein,
54Daß er wie der erträumte blinke;
55Doch du, bist du nicht wirklich mein?
56Und bin ich nicht dein dummer Finke?

(Droste-Hülshoff, Annette von: Gedichte. Stuttgart u. a., 1844.Aus: Haider, Thomas. A Large Annotated Reference Corpus of New High German Poetry. In: Proceedings of the 2024 Joint International Conference on Computational Linguistics, Language Resources and Evaluation (LREC-COLING 2024), S. 677–683, Torino, Italia. ELRA and ICCL. 2024.)

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Dieses Gedicht könnte aus folgender Literaturepoche stammen:

Annette von Droste-Hülshoff (1797-1848)

* 01/10/1797 in Burg Hülshoff, † 05/24/1848 in Burg Meersburg

weiblich, geb. von Droste-Hülshoff

natürliche Todesursache - Lungenentzündung

deutsche Schriftstellerin und Komponistin

(Aus: Wikidata.org)

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