Annette von Droste-Hülshoff: Unter der Linde (1860)

1Es war an einem Morgen,
2Die Vöglein sangen süß,
3Und über’m Raine wallte
4Das schönste Blumenvließ.
5Das Börnlein mir zur Seite
6Sprach leise, leise fort,
7Mit halbgeschlossnen Augen
8Saß ich und lauschte dort.

9Ich sah die Schmetterlinge
10Sich jagen durch das Licht,
11Und der Libelle Flügel
12Mir zittern am Gesicht.
13Still saß ich wie gestorben
14Und ließ mir wohlig sein,
15Mich mit den Blüthenflocken
16Vom Lindenzweig bestreu’n.

17Mein Sitz war dicht am Wege,
18Ich konnte ruhig späh’n;
19Doch mich, verhüllt vom Strauche,
20Mich hat man nicht geseh’n;
21Wenn knarrend Wagen rollten,
22Dann drang zu mir der Staub,
23Und wenn die Vöglein hüpften,
24Dann zitterte das Laub.

25Und nahe mir am Hange
26’ne alte Buche stand,
27Um die der ernste Eppich
28Sich hoch und höher wand.
29Sein düstres Grün umrankte
30Noch manchen kranken Zweig;
31Doch die gesunden spielten
32Wie doppelt grün und reich.

33Es war im Maienmonde,
34Die Blätter atlaszart;
35Wie hast du alter Knabe
36So frisches Herz bewahrt?
37Auf einer Seite thränend
38Und auf der andern licht,
39Zeigst du auf grüner Säule
40Ein Janusangesicht.

41Da dacht’ ich eines Freundes,
42Deß Locken grau und lind,
43Ein armes Wrack sein Körper,
44Und ach, sein Herz ein Kind;
45Mich dünkt, ich sah ihn neigen
46Mit Thränen auf ein Grab,
47Und wieder Blumen streuen
48In eine Wieg’ herab.

49Da weckten Rinderglocken
50Mich aus den Phantasey’n;
51Ein trüber Staubeswirbel
52Drang durch’s Gebüsch herein,
53Und mit Geschrei und Schelten
54Riß einen Epheustab
55Der Treiberknecht vom Baume
56Und trieb sein Vieh bergab.

57Mir war, als ob geschädigt
58Ein frommes Leben sei;
59Doch horch, was trabt so neckend
60So drall und knapp herbei?
61Das Ränzel auf dem Rücken,
62Barett im blonden Haar,
63Kommt ein Student gepfiffen,
64Ein lustiger Scholar.

65”o pescator del onde“
66Es gellt mir dicht am Ohr;
67Nun steht er an der Buche,
68Er hebt den Arm empor.
69Verbrämt sein schlichtes Käpplein
70Mit Lindenzweiges Zier,
71Und pfeifend trägt er weiter
72Sein flatterndes Zimier.

73Glück auf, mein frischer Junge,
74Gott geb’ dir Luft und Raum!
75Wie gern die lust’ge Flagge
76Dir gibt der heit’re Baum;
77Er ist kein schlimmer Alter,
78Dem in verdorrter Brust
79Das Herz vor Aerger zittert
80Ob schmucker Jugend Lust.

81Doch still, was naht sich wieder?
82Ein Husten kurz und hohl,
83Es schlürft den Anger nieder,
84Ach Gott, ich kenn’ dich wohl!
85Es ist der Buche Zwilling,
86Mein alter, kranker Freund,
87Auf dessen Haupt so flammend
88Die Maiensonne scheint.

89Nun steht er an dem Baume,
90Lugt unter’m Zelt hinaus,
91Wie riecht er so behaglich
92An seinem Veilchenstraus.
93Nun sucht er an der Rinde,
94Er wandelt um und um,
95Und lächelt ganz verstohlen
96Und blickt verschüchtert um.

97Dort schau’ ich tiefe Risse
98Und dachte, Frostesspalt;
99Doch wären’s Namenszüge,
100Dann sind sie adamsalt;
101Nun schlägt er einen Nagel,
102Er hängt sein Ränzchen auf,
103Mich dünkt, ich seh’ erröthen
104Ihn an die Stirn hinauf.

105O könntest du mich ahnen,
106Mein grauer Lysias,
107In deinem ganzen Leben
108Wärst du nicht wieder blaß.
109Doch wer dein spotten könnte,
110Du Herz voll Kindessinn,
111Das wär gewiß kein Mädchen
112Und keine Dichterin.

(Aus: Haider, Thomas. A Large Annotated Reference Corpus of New High German Poetry. In: Proceedings of the 2024 Joint International Conference on Computational Linguistics, Language Resources and Evaluation (LREC-COLING 2024), S. 677–683, Torino, Italia. ELRA and ICCL. 2024.)

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Dieses Gedicht könnte aus folgender Literaturepoche stammen:
Author

Annette von Droste-Hülshoff (1797-1848)

* 01/10/1797 in Burg Hülshoff, † 05/24/1848 in Burg Meersburg

weiblich, geb. von Droste-Hülshoff

natürliche Todesursache - Lungenentzündung

deutsche Schriftstellerin und Komponistin

(Aus: Wikidata.org)

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